Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

Am Neujahrstag oberhalb Disentis: Das Wetter macht, was es will. / © Nicolas Lindt

Auf unserem Neujahrsspaziergang bei anhaltend milden Temperaturen im schneefreien Berggebiet treffen wir auf einen Wanderer mittleren Alters, und wir wechseln mit ihm ein paar Worte darüber, dass wir mitten im Winter, anstatt Ski zu fahren, auf grünen Wanderwegen zu Fuss unterwegs sind.

«Also, ich habe nichts dagegen», sage ich, «dass das Wetter so warm ist.»

Darauf meint der Mann mit einem Achselzucken:
«So oder so – wir müssen es nehmen, wie es kommt.»

Denselben Satz höre ich in diesen Tagen mehrere Male. Das Haus ist geheizt, der Kühlschrank voll, das Internet auf Empfang, wir sind noch immer gut abgesichert und haben das Leben unter Kontrolle – nur das Wetter nicht. Das Wetter können wir uns nicht kaufen. Wir können es auch nicht verstaatlichen. Das Wetter macht, was es will. Man muss es nehmen, wie es kommt.

Das ist auf den ersten Blick eine Niederlage. Ein Ärgernis. Wir sagen den Satz mit einem gewissen Bedauern in unserer Stimme. Mit einer gewissen Enttäuschung. Wir sind sogar ein wenig beleidigt. Denn das Wetter macht uns gerade einen Strich durch die Rechnung. Es durchkreuzt unsere Pläne. Es zwingt uns, zu improvisieren. Auf den Schnee zu verzichten. Den Wintertraum bis auf weiteres zu vergessen. Stattdessen im Grünen spazieren zu gehen. Man muss es nehmen, wie es kommt.

Wenn wir aber genauer hinhören, erkennen wir, dass hinter dem Satz nicht nur Enttäuschung steht, nicht nur Ernüchterung oder Resignation. Dahinter steht etwas anderes.

Denn dass wir das Leben im Griff haben wollen, ist anstrengend. Es ist tägliche Schwerarbeit. Wir müssen so vieles können. Wir müssen für unser Einkommen sorgen. Wir müssen eine Familie ernähren. Wir müssen die Kinder richtig erziehen. Wir müssen uns fit und gesund halten. Wir müssen uns weiterbilden. Wir müssen vorsorgen. Wir müssen unsere Partnerschaft pflegen. Wir müssen nett sein. Wir müssen hilfsbereit sein. Wir müssen verständnisvoll sein. Wir müssen Regeln befolgen. Wir müssen gehorchen. Wir müssen uns wehren. Wir müssen zweifeln. Wir müssen uns fragen, was unser Lebenssinn ist.

Wir müssen soviel. Wir müssen zu viel.

Beim Wetter müssen wir nichts. Das entlastet uns. Es verschafft uns Erleichterung. Im Grunde sind wir erleichtert, dass wir das Wetter nicht machen müssen. Wir sind erleichtert, dass wir nicht alles selber bestimmen müssen und nicht allein verantwortlich sind. Das Wetter macht uns bewusst, dass es Kräfte gibt, die über uns stehen, Kräfte, die wir nicht beeinflussen können – Kräfte, die uns vom Anspruch befreien, allmächtig zu sein. Wir müssen nicht allmächtig sein wollen. Wir sind nur Menschen. Das Wetter, könnte man sagen, machen die Götter.

Man muss es nehmen, wie es kommt: Eigentlich ist der Satz falsch formuliert. Eigentlich könnten wir sagen, wenn wir über das Wetter reden: Wir dürfen es nehmen, so wie es kommt. Wir müssen es nicht kontrollieren wollen. Wir dürfen es loslassen. Wir dürfen dem Wetter seinen freien Lauf lassen.

Das ist meine Botschaft fürs neue Jahr. Wir müssen viel, auch im neuen Jahr. Aber wir müssen nicht alles. Das Wetter ist im Grunde das Leben, und das Leben ist eine Chance. Das Leben ist ein Geschenk. Wir dürfen es nehmen, so wie es kommt. 

Nicolas Lindt publiziert den Podcast «5 Minuten» drei Mal wöchentlich montags, mittwochs und freitags – Gedanken, Beobachtungen, Geschichten. Zu finden auf Facebook, Spotify, iTunes oder direkt auf der Webseite von Nicolas Lindt.