Thanatos der Tod und sein Bruder Hypnos der Schlaf

Des Nachts liegen wir in den Armen Morpheus, dem Gott des Traums. Durch Hypnos regeneriert sich unser Körper im Schlaf. Durch Thanatos den Tod verlassen wir ihn für immer – alles nur Mythologie? Kolumne.

Bild von Giovanni Segantini / © Andreas Beers

Wenn er zu Bett ging, hängte der französische Schriftsteller Robert Desnous ein Schild an die Schlafzimmertür, auf dem stand: «le poète travaille» – der Dichter arbeitet.

Im Schlaf verarbeiten wir den Tag, wir erholen uns, schöpfen Kraft und neue Inspiration. Wir lassen los, unser Geist kommt zur Ruhe, wie der Volksmund sagt. Was und vor allem wer lässt wirklich los im Schlaf? Ob im Schlaf- oder Wachzustand, unser Körper funktioniert kontinuierlich und ohne unsere bewusste Beteiligung: Das Blut pulsiert, der Atem strömt ein und aus. Unser Körper, ein komplexes rhythmisches System, funktioniert scheinbar ohne, dass wir willentlich etwas dafür tun.

Morpheus schliesst uns in seine Arme. Die Müdigkeit überkommt uns, sagen wir. Im Moment des Einschlafens zieht sich unser Bewusstsein aus unserer Sinnesorganisation, welche uns mit der sichtbaren Welt verbindet, heraus. Unsere Augenlieder verschliessen den Blick nach Aussen. Ohren und Nase, auch unsere Haut als Tastorgan, bleiben empfänglich, wir reagieren jedoch nicht mehr darauf. Unser Gehirn mit seinem in den Körper sich verzweigenden Nerven System ist das Zentralorgan unserer Sinneswahrnehmung. Wie greifen Seele, Geist oder Ich in diesen Lebensprozess ein?

Mit jedem Aufwachen beginnt ein neuer Tag. Ohne unser Erinnerungsvermögen wäre dieser Vorgang jedes Mal ein vollständiger Neubeginn. Wir wüssten nichts und müssten uns vollständig neu orientieren. Unser ganzes Sein im Wachzustand hängt am Faden der Erinnerung. Ohne diese verlören wir unsere Identität. «Nichts was er sah, war ihm vertraut. In visueller Hinsicht irrte er in einer Welt lebloser Abstraktionen umher. Es gab für ihn keine wirkliche visuelle Welt, da er kein wirkliches visuelles Selbst besass». So beschreibt der englische Professor für Neurologie und Psychiatrie Oliver Sacks in seinem Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», das aus vierundzwanzig persönlich betreuten Patientengeschichten besteht, das Rätsel Gehirn, Geist und Sein. Das Lieblingswort in der klassischen Neurologie dafür ist «Ausfall». Sie beschreibt damit die Aufhebung einer neurologischen Funktion: Verlust der Sprache, des Sehvermögens, den Verlust der Geschicklichkeit, den Verlust des Gedächtnisses – Aphonie, Aphasie, Alexie, Agnosie – Begriffe aus der Psychologie, deren Namen uns an griechische Götter erinnern.

Unterbewusstsein und Schlaf sind nicht fassbar jedoch höchst wirksam in unserem Leben. Die wissenschaftliche Frage nach der Beziehung zwischen Gehirn und Geist begann 1861 mit dem französischen Chirurg, Anatom, Pathologe und Anthropologe Paul Broca. Sie ist bis heute noch nicht beantwortet. Die Erkenntnis über das Unsichtbare in uns ist noch nicht weit verbreitet. In der antiken griechischen Mythologie erfahren wir darüber eine sehr bildhafte, und in gewissem Sinne auch genaue Beschreibung der menschlichen Psyche. Durch das Buch des deutschen Gustav Schwab «Sagen des Klassischen Altertums» erhalten wir einen tiefen Einblick in die antike Mythologie und Weisheit aus den Quellen der griechischen Gelehrten Homer und Hesiod. Wir erfahren dort vieles über das Zusammenwirken von Menschen und Götter, über Thanatos den Tod und dessen kleinen Bruder Hypnos, den Schlaf.

Der wesentliche Vorgang des Schlafes ist ein lebenswichtiger Teil des menschlichen Lebens. Rund ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Schlaf. Was wir dort tun, entzieht sich vollständig unserer sinnlichen Wahrnehmung. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich selbst die Erkenntnis erworben über das Grundlegendste ihres Seins, ihrer Seele, ihres Geistes! In der Anthroposophie, der Menschenkunde und Geisteswissenschaft Rudolf Steiners, wird ein solcher Weg aufgezeigt. 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät, pflanzt und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles zurückgegeben was sie leise leiht, und weit verteilt wie Brot in Hungersnöten an Mitternächte und an Morgenröten, und sind wie Regen voll des Niederfalles in eines Dunkels junge Fruchtbarkeit. Dann bleibt nicht eine Narbe ihres Namens auf ihrem Leib zurück, der keimbereit sich bettet wie der Samen jenes Samens, aus dem du stammen wirst von Ewigkeit.» (Rainer Maria Rilke 1875-1926)