«Wir haben keine gemeinsame Arena mehr»
Wir leben in einer «zerrissenen Gesellschaft» – und das nicht erst seit Corona. «Die zerrissene Gesellschaft» ist auch der Titel des neuen Buches von Roman Huber und Claudine Nierth von «Mehr Demokratie». Ich habe mit Roman Huber über Demokratiefähigkeit, kollektives Trauma und achtsame Gesprächsformen in der Politik gesprochen. Hier ein Auszug des Gesprächs, im Podcast kann man das ganze Gespräch anhören.
Zeitpunkt: Schon vor Corona begann die Gesellschaft in immer mehr unversöhnliche Untergruppen zu zersplittern – warum?
Roman Huber: Der Grund für die Zerrissenheit und die Spaltung ist meiner Meinung nach im Tiefsten Angst und Bedürfnis nach Sicherheit. In dieser Angst versuchen wir, Grenzen zu setzen. Wenn ich innerlich keinen klaren Kompass habe, brauche ich eine Grenze im Äusseren. Wer politisch arbeiten will, braucht innere Arbeit, um zu verstehen, was ihn bewegt.
Was meinst du damit? Eine Art von Selbsterfahrung?
Es macht keinen Sinn, so zu tun, als wenn das Mensch-Sein nur im Kopf stattfindet. Mensch-Sein ist ganzheitlich. Es geht nicht darum, in Emotionen zu verschwinden. Aber wir müssen sie kennen, damit wir überhaupt wieder einen sauberen Dialog führen können und dialogfähig werden. Um einen wirklich faktenbasierten Austausch zu haben und uns nicht nur Stereotypen um die Ohren zu hauen. Denn am Ende müssen wir Probleme lösen. Am Ende brauchen wir Antworten, um die Probleme der Gesellschaft zu lösen.
Was könnten politisch machbare Formen dafür sein?
Wir brauchen Räume, wo genügend Zeit ist, genügend Tiefe und genügend kollektive Intelligenz wirksam werden kann. Wir müssen Räume schaffen, wo wir auch trennen können: Wo treffen wir Entscheidungen und wo tauschen wir uns aus? Wo lernen ich, auch mal zu zeigen, was bei mir darunter liegt. Warum hänge ich an meiner Position?
Wir haben Formate wie Bürgerräte entwickelt – ein Austausch von Menschen aller Bildungsschichten, aller Altersstufen. Dafür braucht man Moderatoren, die sich nicht auf eine Seite ziehen lassen, sondern dafür ausgebildet sind, sich nur um den Prozess zu kümmern.
Wir haben dazu Versuche mit Aufstellungen gemacht, mit emotionaler Arbeit. Mit ganz simplen Techniken wie Sprechen und Zuhören, die man aus dem therapeutischen Bereich kennt. Wir brauchen Tausende von Demokratiearbeitern, die in die Kommunen gehen und dort Prozesse machen, Räume schaffen, Meditationen machen, Begegnungsräume schaffen.
Wird das angenommen von Politikern?
Ich hatte in der letzten Woche viele Gespräche mit Abgeordneten, auf allen Ebenen. Da gibt es Leute mit grossem systemischen Verständnis – und andere haben überhaupt keine Ahnung von Demokratie. Wenn man ihnen genau zuhört, unter all den gewichtigen Argumenten sagen sie eigentlich immer nur: Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Bei all der Würde der Ämter: das ist der Hintergrund.
Brauchen wir eine neue Streitkultur?
Ja – Streit im Sinne von Austausch, von Wettbewerb der Argumente. Das setzt aber voraus, dass ich trenne zwischen der Position und dem Menschen. Ich kann eine Position verachten, aber nicht den Menschen. Respektvoll, freundlich, zugewandt dem Menschen gegenüber und hart in der Sache. Das ist eine Streitkultur, wie man sie sich wünscht.
Können wir aus Gemeinschaften lernen, wie wir in der Politik handeln können?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen die anderen, wir sehen unsere blinden Flecken nicht selbst und müssen den anderen die Erlaubnis geben, uns an solchen Stellen zu unterbrechen, zu spiegeln. Eine ehrliche Rückmeldung hilft. Es gibt natürlich auch in Gruppen die Gefahr, dass sich Einzelne zu viel Macht nehmen. Aber wenn man schlicht bleibt und ehrlich bleibt und immer wieder in die soziale Hygiene geht, in Klärungsprozesse, dann kommt man weiter.
Die Mainstreammedien bieten keine Orientierung mehr. Was können wir da tun?
Früher war der Diskursraum definiert von den öffentlich-rechtlichen Medien. Was da nicht besprochen wurde, existierte nicht. So wurden 80% des Weltgeschehens ausgeblendet. Diesen Diskursraum gibt es so nicht mehr, da bin ich froh darum, ich habe mich da nie zu Hause gefühlt. Heute ist der Diskursraum vielfach zersplittert. Es gibt verschiedene Wirklichkeiten, die teilweise nichts mehr miteinander zu tun haben. Wir haben keine gemeinsame Arena mehr.
Dass das Medienvertrauen nicht mehr einfach so da ist, sondern die Menschen auf sich zurückgeworfen sind, hat aber auch Vorteile: Sie müssen überprüfen und bewerten, was ist Wirklichkeit, was ist ein Fakt? Denn ein Fakt ist etwas Hergestelltes, hat einen Kontext. Am Ende müssen wir einen Fakt selbst bewerten.
Doch alternative Medien recherchieren oft auch nicht sauberer. Oft ist zuerst das Weltbild, danach werden die Fakten eingesammelt. Ich würde zu diesem Thema gerne einen Bürgerrat machen – ein Drittel Bürger, ein Drittel Journalisten, ein Drittel Politiker.
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