«Wir sind nicht mehr dieselben Menschen»
Israelische Soldaten offenbarten der Zeitung «Haaretz», was kein Israeli über Monate des Kampfes in Gaza hören will. Direkt von der Highschool nach Gaza geschickt, schilderten fünf junge israelische Wehrpflichtige die brutale, erschöpfende Realität des Krieges mit der Hamas – eine Welt voller Verzweiflung, Wut und lähmender Angst, ohne ein Ende in Sicht. Einige Auszüge.
«Ich will einfach nur, dass es vorbei ist – bitte. Ich bin erschöpft, als wäre ich 80 Jahre alt.» (Illustration: Aron Ehrlich)
«Ich will einfach nur, dass es vorbei ist – bitte. Ich bin erschöpft, als wäre ich 80 Jahre alt.» (Illustration: Aron Ehrlich)

Wenn Journalisten im Kampfgeschehen der israelischen Armee eingebettet sind, sehen sie nicht die alltägliche Realität – sondern eine sorgfältig inszenierte Vorstellung. Soldaten werden von Kommandanten gründlich instruiert, was sie Journalisten sagen dürfen und was nicht. Doch nun sprachen fünf aktive Soldaten mit Haaretz und zeichneten ein ganz anderes Bild – und das hat kaum Ähnlichkeit mit der offiziellen Darstellung. In ihren Aussagen geht es um tiefe Erschöpfung, schweree physische und psychische Belastung und ständiger Todesangst. Ihre Bitte: «Ihr habt uns in diesen Krieg geschickt – jetzt hört euch an, was wir zu sagen haben.»

(Die Namen wurden geändert.)

So berichtete Yonatan, 21, berichtet von einer Hausräumung im letzten November in Dschabaliya: «Wir durchsuchten das Gebäude mit einer Drohne und sahen nichts, also gingen wir hinein. Zwei Minuten später gab es eine Explosion. Die Druckwelle schleuderte mich durch die Luft, und ich konnte nicht begreifen, was geschehen war. Plötzlich merkte ich, dass mein Mund voller Blut war. Ich dachte, ich sei verwundet, aber das war ich nicht – es war das Blut meines besten Freundes in der Einheit. Er rief immer wieder meinen Namen, flehte mich an zu helfen, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie gelähmt.»

Er wurde von Sanitätern evakuiert. «Wir machten einfach weiter, räumten ein Haus nach dem anderen, als wäre nichts passiert, als wäre alles normal.» Yonatan fühlte sich «tot, leer, völlig abgestumpft» - und wurde schliesslich disziplinarisch belangt, weil er seinen Posten verlassen hatte. Bevor er seine 28 Tage Arrest absitzen konnte, rannte er davon. «Ich habe keinen Plan. Sie haben uns beigebracht, wie man angreift, wie man eine blockierte Waffe repariert, wie man einem verletzten Kameraden einen Verband anlegt. Aber niemand hat mir beigebracht, was man tut, wenn man das Blut seines besten Freundes schmeckt.»

Or, ein zwanzigjähriger Fallschirmjäger, berichtet von seinem Zusammenbruch bei einem Heimaturlaub in Tel Aviv. Er wurde von seiner Familie in ein Restaurant eingeladen.

«Die Gerüche übermannten mich – ich dachte, ich müsste wieder erbrechen. ‚Warum isst du nichts?‘ fragten sie immer wieder. Ich konnte nicht antworten. Der Geruch machte mich wahnsinnig – ich bekam ihn nicht aus meinem Körper. Zuerst verstand ich nicht, was mit mir los war – und dann wurde es mir klar: Es war der Geruch von Leichen.»

Or hatte einige Tage zuvor in den Trümmern eines Hauses in Khan Yunis fünf, vielleicht sechs Leichen gefunden. «Überall waren Fliegen, und ich glaube, Hunde hatten am Fleisch gezerrt. Zwei davon waren kleine Kinder – ich sah ihre Knochen. Es war furchtbar, unvergesslich, etwas, das mich in meinen Nächten verfolgt. Aber mehr als alles andere erinnere ich mich an den Geruch – er übernahm meinen Körper, haftete an meinen Kleidern. Selbst nachdem ich mich in jener Nacht pausenlos mit Deo eingesprüht hatte, ging er nicht weg. Ein lebendiger Albtraum. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist – bitte. Ich bin erschöpft, als wäre ich 80 Jahre alt.»

 Omer, 21, von der Givati-Brigade berichtete: «Es fällt mir schwer zu glauben, dass dieser Krieg erst seit 20 Monaten andauert – es fühlt sich an wie zehn Jahre. Ich habe den Überblick verloren, wie viele Leute ich kannte, die getötet wurden – aus meinem Bataillon, meiner Brigade, meiner Schule, meiner Nachbarschaft. Ich habe nicht mehr die Kraft, noch von einem zu hören. Es zerreisst mich.»

Er berichtet über das sinnlose Sterben: «Die Leute denken, Soldaten sterben im Kampf, aber die Wahrheit ist: Viele sind völlig sinnlos gestorben – wegen Nachlässigkeit der Offiziere oder weil es nicht genug Munition gab, um ein Gebäude zu bombardieren, bevor sie uns hineinschickten. Wie viele Freunde muss ich noch beerdigen, bevor die Leute aufwachen?»

Alle Soldaten haben auf ihrem Handy in der Notizen-App ein Testament gespeichert, berichtet er. Jetzt würden sie zu weiteren vier Monaten Reservedienst gezwungen. «Niemand fragt, ob wir das wollen – oder ob wir das überhaupt noch können. Und wenn sich jemand beschwert, drohen sie ihm mit Gefängnis, nennen ihn Verräter, Feigling. Also schweigen die meisten. Manchmal weinen wir am Telefon mit unseren Müttern oder einem Freund, bei dem wir uns sicher fühlen. Ich will einfach nur weglaufen. Reisen. Mich erholen. Drogen nehmen. Vergessen. Ich weiß nicht, was von mir noch übrig bleiben wird. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr derselbe bin – das ist sicher.»

Yair, 21, von der Aufklärungseinheit Nahal, berichtet von den kleinen Katastrophen: «Weisst du, wie es ist, tagelang mit einer Keramikschutzweste auf dem Rücken herumzulaufen? Was es heisst, zehn Tage lang die Stiefel nicht auszuziehen? Im Dreck zu liegen und das Team zu decken, während man die Augen nicht mehr offenhalten kann? So eng zusammengedrängt zu sein, dass selbst die Menschen, die man liebt, einen in den Wahnsinn treiben? Ich weiß nicht, ob ich mich je wieder erholen werde. Ich will einfach nur, dass wieder alles normal ist – so wie früher.»

Uri, 22, von der Kampfeinheit Yahalom, bekennt: «Irgendwann habe ich einfach aufgehört, an das zu glauben, was wir hier tun. Im ersten Jahr glaubte ich, wir seien Teil von etwas Historischem, dass wir israelische Zivilisten schützen, dass wir helfen, die Geiseln zu befreien. Aber wenn du hörst, dass wieder eine Geisel bei einem Luftangriff ums Leben gekommen ist, wenn du an der nächsten Beerdigung eines Freundes teilnimmst – dann verblasst es einfach. Jeder mit halbwegs Verstand sieht doch, dass dieser Krieg aus politischen Gründen weitergeführt wird. Es gibt keinen Grund mehr, weiterzumachen. Wir erreichen nichts – wir setzen nur unser Leben immer und immer wieder aufs Spiel.»


haaretz

 Quelle: Die regierungskritische israelische Tageszeitung «Haaretz» (3.7.2025)

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Bearbeitung: Nicolas Lindt und Christa Dregger

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