Kein Engel im Hauptbahnhof
Am vergangenen Wochenende wurde ein 88jähriger Mann im Zürcher HB von einem jungen Marokkaner ohne erkennbaren Grund angegriffen und schwer verletzt. Die Meldung ruft uns schmerzlich in Erinnerung, dass die alte Frau nicht mehr da ist, die das Gesicht des Hauptbahnhofs viele Jahre lang prägte. Sie würde heute gebraucht. - Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».
Jedesmal, wenn ich lese, dass mitten im grossen Bahnhof der grossen Stadt Passanten ohne erkennbaren Grund niedergestochen werden, kommt sie mir in den Sinn – die alte Frau in der grossen Halle. Viele Jahre lang stand sie da, Tag für Tag, im Sommer, wenn sich die Hitze im Bahnhof staute, ebenso wie im Winter, wenn der Wind durch die Halle pfiff: Immer blieb sie auf ihrem Posten und blickte den Reisenden nach.
In ihren Wollmantel eingehüllt, den Rücken gebeugt, hielt sie sich mit knochigen Händen an ihrem Rollstuhl und liess ihre Blicke wandern, in voller Konzentration, ohne Rast. Es schien, als wolle sie alle, die sich an ihr vorüber bewegten, erfassen. Es schien, als dürfe sie keine, keinen verpassen.
Offensichtlich hatte sie einen Auftrag, eine Verpflichtung aus ihrem Innern, vielleicht sogar ein Diktat ihres Willens. Sie durfte nicht trödeln und sich nicht ablenken lassen. Geld nahm sie keines an, höchstens einen Becher Kaffee. Wer sie ansprach, hatte sofort das Gefühl, sie zu stören. Ihre Antworten waren so kurz, dass niemand länger bei ihr verweilte. Respektvoll zog man sich wieder zurück. Man liess sie in Ruhe. Man liess sie ihre Arbeit verrichten. Es hiess, sie segne die Menschen, die an ihr vorbei zu den Zügen eilten. Jedem Einzelnen wünsche sie eine gute Reise.
Alle, die den grossen Bahnhof durchquerten, hatten die alte Frau schon gesehen. Man nannte sie auch den Engel vom Hauptbahnhof – den richtigen Engel, nicht jene knallbunte Lichtfigur, die von der Decke der Halle herabhängt. Aber sie wollte kein Engel sein, und sie behauptete nie, in höherem Auftrag zu handeln. Manche hielten sie für verrückt, doch ihre Zähigkeit, ihre Unerschütterlichkeit beeindruckten mich. Woher nahm sie die Kraft dafür?
Abends, wenn sie ermattet von ihrer Mission in ihrem Stuhl sass und schlief, den Kopf zur Seite geneigt, rührte sie mich. Dann waren die Augen, die uns so seltsam verfolgten, geschlossen. Dann war sie einfach nur eine müde, vom langen Leben gezeichnete Frau, die sich ausruhen musste. Irgendwo in der Stadt, hiess es, warte ein Bett auf sie. Doch schon am folgenden Morgen steuerte sie ihren Rollstuhl wieder in die Mitte der Halle. Sie durfte nicht fehlen.
Eine Zeitlang suchte ich sie vergeblich im Strom der Passanten, und ich dachte bereits: Sie hat ihren Frieden gefunden. Aber dann tauchte sie wieder auf, stand wieder da und erfüllte ihr tägliches Soll.
Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte gesagt: Wir danken dir. Du hast uns viele Jahre gesegnet. Nun ist es an uns, dich zu segnen. Ruhe dich aus. Vertraue darauf, dass wir die Reisewege, die wir zu gehen haben, auch ohne dich finden. Doch die Frau hätte nicht auf mich hören wollen. Sie hörte auf niemanden. Nur ihre innere Stimme zählte für sie, und diese Stimme sagte: Aufhören darfst du nicht. Sie sank immer mehr in sich zusammen, schlief immer häufiger ein – doch ihr Auftrag, dessen wahres Motiv wir nicht kennen, war unbefristet.
Ich wünschte ihr, dass sie ihr letztes Stündlein nicht in einem Pflegeheimbett, sondern mitten im Bahnhof erleben würde. Ob es ihr vergönnt war – ich weiss es nicht. Eines Tages war sie wieder verschwunden. Und wie sich zeigte, kehrte sie diesmal nicht mehr zurück.
*
Wie würde es ihr wohl heute ergehen? Würde man sie, mit sanfter sozialer Gewalt aus ihrer Verpflichtung hinausgeleiten – unter gutem Zureden und dem Angebot eines netten Zimmers in netter Umgebung? Oder würde man sie noch immer gewähren lassen?
Sie würde gebraucht. Mehr denn je. Würde sie heute im Bahnhof stehen und die Menschen segnen, dann wäre sie die Kraft in der Mitte, der rettende ruhende Pol. Ihre Blicke würden quer durch die Halle wandern und alles entschärfen, alles beruhigen, und ihre unbestechlichen Augen würden die Augen des Marokkaners treffen, der am vergangenen Wochenende gewaltbereit durch den Hauptbahnhof irrte. Sie würde ihn segnen, auch ihn, und der Mann ohne Heimat müsste an seine Mutter denken und wie traurig sie wäre, wenn sie erfahren würde, was er getan hat. Er würde sein Opfer in Frieden lassen.
Möglicherweise braucht es mehr Polizei. Mehr Kontrolle. Noch mehr Kontrolle. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht genügt eine alte Frau, die mitten unter uns Menschen steht und als Engel wirkt, ohne einer zu sein.
Die nächste Kolumne erscheint nach den Frühlingsferien, in der Woche vom 5. Mai.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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