Klein-Lhasa in Rikon
Nirgends in Europa leben so viele Tibeter wie in der Schweiz. Ihre Heimat finden sie im Tibet-Institut im Tösstal, dem grössten tibetischen Kloster ausserhalb Asiens.
Unten im Dorf kennen sie den Anblick schon: Mönche, die in ihrem ärmellosen, dunkelroten Habit in einem Waldstück verschwinden. Nach dreissig Gehminuten taucht vor ihnen am Hang ein steil aufragendes, weisses Gebäude auf. In den Bäumen rund um das Gebäude, das manchen wie eine Miniaturausgabe des Potala-Palastes in Lhasa erscheint, flattern tibetische Fahnen. Kühe weiden friedlich. In wohl kaum einem Schweizer Dorf treffen zwei derart verschiedene Kulturen und Religionen so unmittelbar aufeinander wie hier in Rikon.
Glücksschleifen und Dampfnudeln
Die Mönche stehen mit ihren Gästen vor dem ersten, auf Wunsch des Dalai Lama errichteten tibetisch-buddhistischen Kloster ausserhalb Asiens. Es wurde am 9. November 1968 unter dem Namen «Kloster zum Rad der Lehre» eingeweiht. Bekannt wurde es unter dem Namen «Tibet-Institut». Für die Tibeter der Diaspora-Gemeinde ist das Kloster das wichtigste spirituelle Zentrum in der Schweiz – und weit darüber hinaus. Die Gäste betreten das grosse Foyer des Tibet-Institutes und begeben sich zum wichtigsten Ort hier: dem Kulturraum, dem Gebetsort der Mönche. Weihrauchduft durchzieht den Raum, als sie sich auf den Boden setzen. Goldene Schälchen, Kerzen und Buddha-Statuen sorgen für grosse Augen. Hinterm Glas verbergen sich kostbare, in Tücher eingewickelte Schriftrollen. Die acht Mönche beten vor einem leeren Thron, auf dem ein Jugendbildnis des Dalai Lama steht. Wie wenn er leiblich anwesend wäre, stellt ihm ein Mönch ein Schälchen Tee vor den Altar. Einige wiegen ihre Körper beim Singen hin und her. Immer wieder erklingen Glocken, Trommeln und scheppernde Klangteller. Lama Tenzin Jottotshang sagt: «Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, sass schon oft hier mit uns zum Gebet.»
Am 21. September 2018 war es wieder soweit, als der Dalai Lama dem Kloster zu seinem 50. Bestehen einen Besuch abstattete. Im Speiseraum des Tibet-Institutes liegen in diesen Tagen noch die Zeitungen mit den Berichten über dieses Fest. Die Fotos zeigen Menschen, die erwartungsvoll an den Hängen auf den hohen Gast warten. Frauen und Kinder in bunten und glänzenden Trachten, der Chuba. Ein rot-gelb-blaues Fahnenmeer, aus dem Schweizer Flaggen herausleuchten. Tenzin Gyatso, so der richtige Name des Dalai Lama, der die Menschen anlächelt und berührt. Und schliesslich Bilder von Menschen, die nach der geistlichen Unterweisung rot-grün-weisse Dampfnudeln speisen.
Bewegte Gründergeschichte
Am Umrundungsweg am Tibet-Institut befindet sich das neue Lichtopferhaus. An seiner Stirnseite ist eine goldene Plakette angebracht. Darin eingraviert sind die Namen von Henri und Jacques Kuhn. Sie zeugen von einer mutigen Tat. Die Hintergründe: 1959 erhoben sich die Tibeter gegen die chinesische Besatzungsmacht. Nach der blutigen Niederschlagung flohen 80 000 Tibeter über den Himalaja nach Indien oder Nepal. Unter ihnen auch der junge Dalai Lama, der in Indien eine Exilregierung bildete. 1961 nahm die Schweiz 1000 tibetische Flüchtlinge auf. Als das Schweizerische Rote Kreuz für die tibetischen Flüchtlinge einen Ort suchte, stellte die Pfannenfabrik Kuhn Rikon Arbeitsplätze und Wohnungen zur Verfügung. Um die Menschen besser zu integrieren, gründeten die Brüder Jacques und Henri Kuhn eine Stiftung, brachten Geld und Land ein. Der Grundstein für das Tibet-Institut war gelegt.
Unter den Tibetern, die dem Dalai Lama eine weisse «Khata», ein Freundschaftsschal, übereichten, waren viele junge Leute. Viele sind engagiert in einer der zahlreichen tibetischen Organisationen. Auf ihren T-Shirts stehen Namen wie «Verein Tibeter Jugend Europas», «Gesellschaft Schweiz-tibetische Freundschaft» oder «Tibet Swiss». Die meisten sind gut ausgebildet und sprechen akzentfreies Schweizerdeutsch. Auch die jungen Tibeter anerkennen den Dalai Lama als ihren spirituellen Leader. Auch wenn, so ist aus Gesprächen herauszuhören, nicht alle seinen Weg, der auf Gewaltfreiheit und Versöhnung basiert, uneingeschränkt gutheissen.
Rund um die Stupa
Das «TBI», wie viele das Tibet-Kloster nennen, ist nicht nur gut besucht, wenn der Dalai Lama vorbeischaut. Die zwölf tibetischen Feiertage ziehen durchs Jahr Hunderte von Menschen an. Meist versammeln sie sich am Eingang des schneeweissen Gebäudes, über dem das «Rad der Lehre» golden glänzt. Sie kennen sich von vielen Veranstaltungen, die das Tibet-Institut zu Themen der tibetischen Kultur und Religion anbietet. Beliebt ist der Spaziergang zur Stupa, einem buddhistischen Tempel, der sich auf einer Anhöhe mitten im Wald befindet.
Auch Michaela Litzenburger geht an diesem Vormittag mit Gästen durch das idyllische Waldstück. Sie umkreist die Stupa, die auf einem weissen Sockel thront. Ein Reinigungsritual. Andere legen an einer Baumwurzel Opfergaben und Glücksbringer wie Muscheln, Steine und Figuren hin. Die Lehre über das «Grosse Mitgefühl» und das Streben nach Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen hat die gebürtige Deutsche, die seit 1982 in der Schweiz lebt und als Supervisorin, Coach und Heilpädagogin arbeitet, schon früh interessiert. Mit zwanzig Jahren las sie das Buch «Zen-Buddhismus und Psychoanalyse» von Erich Fromm und war fasziniert. Die Verbindung zu den Tibetern entstand schon früh, sie knüpfte Kontakte mit den Menschen, die unter schrecklichen Bedingungen aus ihrer Heimat flüchten mussten, und begann sich dafür zu engagieren. Litzenburger wurde Mitglied des GSTF, «Gemeinschaft schweizerisch-tibetischer Freundschaft». «Hier ist es möglich, gemeinsam auf der politischen und spirituellen Ebene miteinander in Verbindung zu sein», sagt sie. Die Haltung der Tibeter, sich mit Empathie, Mitmenschlichkeit und Verständnis für Andersdenkende einzusetzen, hat Michaela Litzenburger stets beeindruckt.
An der Stupa steht auch Lama Tenzin Jottotshang. Der Mann mit dem herzhaften Lachen gehört zu den ersten Mönchen, die 1967 vom Dalai Lama in die Schweiz geschickt wurden, um die Exil-Tibeter hier geistig und seelsorgerlich zu unterstützen. Lama Tenzin ist viel unterwegs. «Viele der 8000 Tibeter, die mittlerweile in der Schweiz leben, schätzen unsere Nähe.»
Das tibetische Gedächtnis
Das Tibet-Kloster Rikon ist nicht nur ein Ort der Meditation, sondern auch ein wissenschaftliches Zentrum. An einem Aushang lesen die Besucher, dass hier Buddhismus-Workshops für Kinder und Jugendliche stattfinden. Sie hören von «Science meets Dharma - Naturwissenschaft und buddhistische Lehre begegnen sich» – ein Forschungsprojekt, hinter dem der Gedanke steckt, dass der tibetische Buddhismus auch für andere Denkweisen offen sein muss. Als sie das Foyer betreten, kommen ihnen Schüler entgegen. Seit 2017 zählt Rikon zu den Stationen im Projekt «Dialoge en Route», das Schüler einlädt, die religiöse Vielfalt der Schweiz kennenzulernen.
Auch die jungen Tibeter anerkennen den Dalai Lama als ihren spirituellen Leader, auch wenn nicht alle seinen Weg gutheissen.
Die Besucher stossen weiter die Tür zur Bibliothek des Tibet-Institutes auf. Sie blicken auf 12 000 Titel, die sich der tibetischen Geschichte, Kultur und Religion widmen. Es ist die weltweit grösste tibetische Fachbibliothek. Norbu Tsamda, Präsident der Tibetergemeinschaft in der Schweiz und Liechtenstein, sagt über sie: «Diese Bibliothek ist einmalig. Sie dient der Bewahrung des geistigen Erbes Tibets und bildet eine reiche Basis für wissenschaftliches Arbeiten.»
Am liebsten halten sich die Mönche und die Gäste im Gebetsraum auf. Er ist das Herzstück des Klosters. Auch an diesem Morgen finden sich hier wieder Gäste zu einem Gebet ein. Sie sitzen auf Kissen am Boden. Lama Tenzin Jottotshang singt mit sonorer Stimme Gebete ins Mikrofon. Andere Mönche stimmen in den Sprechgesang ein. In Gedanken sind jetzt alle auch bei den Tibetern in der Ferne, die verfolgt und schikaniert werden. Schmerz liegt in ihren Stimmen. Als das Gebet endet, umarmen sich die Anwesenden. Die Gäste wurden Teil einer geheimnisvollen Welt, deren Kraft aus Quellen stammt, die für manche nur zu erahnen oder noch zu entdecken sind.
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