Neue Fahnen in Afrika
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Ich muss ehrlich gestehen, dass mich ein Land wie Niger bisher nicht interessierte. Ich wusste nicht einmal, wo in Afrika es genau liegt. Irgendwo mittendrin wahrscheinlich, hätte ich angenommen, im schwärzesten Schwarz des dunklen, verlorenen Kontinents. Auch der Militärputsch, der soeben in Niger stattfand, wäre mir die Lektüre nicht Wert gewesen. Ich hätte bloss den Titel gestreift und gedacht: Wieder einmal wird in Afrika eine Regierung gestürzt. An die Stelle korrupter Machthaber treten andere Machthaber, die genauso korrupt sein werden.
Ich fand auch Entwicklungshilfe – staatliche Hilfe – stets sinnlos. Nicht nur sinnlos, sondern betäubend. Weil sie das afrikanische Volk in einer Art Dauerkoma gefangen hält und den Menschen die Kraft nimmt, sich gegen den Westen und deren Marionettenregimes zu erheben und ihre afrikanische Erde zurückzuerobern.
Doch nun sehe ich Bilder aus Niger von Menschen, die französische Flaggen verbrennen. Und nicht nur das. Ich sehe Bilder von Menschen, die russische Flaggen schwenken. In einem Moment der Weltgeschichte, wo in unseren Breitengraden überall die ukrainischen Farben zu sehen sind, taucht auf den Bildern aus Afrika das geächtete russische Ro-Weiss-Blau auf.
Ich beginne zu lesen. Und ich lese, dass Niger einer der weltweit grössten Uranproduzenten ist. Ich lese, dass Frankreich mit seinem hohen Anteil an Kernkraft einen Grossteil seines Urans bisher aus Niger bezog, und dass die Gewinne aus dem Uranverkauf vor allem ins Ausland und vor allem nach Frankreich fliessen. Ich lese, dass Niger bisher eines der pro-westlichsten Staaten Afrikas war. Dass EU-Truppen im Land stationiert sind und dass die USA im Niger eine Militärbasis installiert haben. Und ich lese, dass Niger ebenso wie viele andere afrikanische Länder trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Welt gehört.
Doch nun wurde der pro-westliche Staatschef entmachtet. Die Putschisten, die im Volk eine grosse Unterstützung geniessen, stoppten den Export von Uran nach Frankreich. Sie wollen auch die französischen Truppen aus dem Land werfen. Frankreich drohte mit einer militärischen Intervention. Und die ECOWAS, eine pro-westliche Vereinigung westafrikanischer Staaten, drohte ebenfalls mit Armeegewalt, sollte der bisherige Präsident in seinem Amt nicht wiedereingesetzt werden.
Jedoch haben sich mehrere Staaten dieser Vereinigung – Burkina Faso, Mali, Guinea, Tschad, Mauretanien, Algerien – mit ihrem afrikanischen Bruderland inzwischen solidarisch erklärt oder mindestens ein militärisches Eingreifen abgelehnt. Denn als ehemalige französische Kolonien erleben sie seit Jahrzehnten dasselbe Schicksal wie Niger. Staatlich zwar unabhängig, sind sie wirtschaftlich immer noch kolonisiert. Neokolonisiert.
Warum aber schwenken Menschen in Niger russische Fahnen? Weil Russland sagt: Die Welt gehört nicht dem Westen. Sie gehört nicht den USA. Die Welt gehört allen. Das sagen die Russen nicht aus Bescheidenheit und auch nicht aus Grossherzigkeit. Sie sagen es, weil es so sein muss. Es darf nicht nur eine Supermacht geben. Jedes Ungleichgewicht ist schlecht. Jede Ambition auf ein Monopol ist gefährlich. Auch Russland ist eine Supermacht. Auch China ist eine Supermacht. Wenn es aber mehrere grosse Mächte gibt, dann haben kleine Staaten mindestens eine Wahl. Dann können sie selber entscheiden, mit welcher grossen Macht sie verbündet sein wollen. Mit wem sie gewillt sind, Geschäfte zu machen.
Das muss nicht der Westen sein. Denn wer hat Afrika ausgeplündert während der Kolonialzeit? Der Westen. Wer plündert es wirtschaftlich heute noch aus? Vor allem der Westen. Bei wem ist es am meisten verschuldet? Beim Westen. Bei den USA und Europa. Deshalb schneidern Menschen in Afrika – nicht nur in Niger – russische Fahnen. Deshalb tragen sie sie auf die Strasse. Weil sie nicht länger die Sklaven des Westens sein wollen. Und weil die Russen offensichtlich die einzigen sind, die dem Westen die Stirn bieten.
Eigentlich müssten die Afrikaner auch die ukrainische Flagge schwenken. Nicht zur Unterstützung des Krieges. Sondern aus Solidarität mit dem ukrainischen Volk, mit den ukrainischen Männern, die für die Machtinteressen des Westens ihr Leben lassen. Das haben sie mit den Menschen in Niger gemeinsam. Sie sind die Opfer des Westens. Die Opfer der westlichen Reichen und Guten. Die Opfer von denen, die von sich selber glauben, dass sie die Einzigen sind, die das Richtige denken und das Richtige tun. Wie schon damals, während der Kruezzüge. Und wie schon während der Kolonialzeit.
Ich stelle fest, ich entwickle ein Interesse für Afrika. Zum ersten Mal. Ich habe Respekt vor den Menschen in Niger, weil sie trotz ihrer Armut nicht resignieren. Und ich fühle mich, bei aller Verschiedenheit, mit ihnen verbunden, weil sie begriffen haben, dass die Welt nicht schwarz-weiss ist. Sondern mannigfaltig und farbenfroh.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Kommentare
Befreiungskampf von der Kolonialisierung
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Zu Niger
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Lieber Nicolas,
ja, das sind wirklich grosse globale Verschiebungen, die gerade stattfinden. Wie Kai Ehlers im Podcast von letzter Woche sagte, es geht auch in der Ukraine um einen Befreiungskampf von der Kolonialisierung - aber der größte Kolonisator ist auch heute der Westen.
Was bedeutet eigentlich