Radikal durch die Mitte – Drei Forderungen für eine breite gesellschaftliche Allianz
Start einer lockeren Serie zum Thema: «Systemwechsel - wie schaffen wir das?»
Die Politiker werden immer grüner. Doch gnadenloser Wettbewerb, Konsumwahn und Egoismus haben uns fest im Griff. Nichts ändert sich am System. Die Grenzen zwischen Rechts und Links verschwimmen. Viele von uns ärgern sich über die Politik, über Parteien, die keine wirkliche Alternative anbieten. Muss die Gestaltung unsere Zukunft aus der Mitte kommen, der radikalen Mitte?
Corona bye bye! Ja, für viele von uns scheint jene Zeit mehr und mehr zu verblassen. Damals, als Corona im Mittelpunkt unserer täglichen Wahrnehmung stand, das Maskentragen, für viele die Angst sich anzustecken, zu erkranken. Bei anderen war es die Wut über die angebliche Dummheit eben dieser Maskenträger, die Empörung über die Einschränkungen unserer Freiheitsrechte durch die Regierung, durch Behörden.
Nach zwei langen Jahren begab sich Corona Anfang 2022 – gerade mal ein Jahr ist das her – schliesslich auf den Rückzug. Gleichzeitig begann der Krieg in der Ukraine. Eine weitflächige Solidarität mit den Angegriffenen war breiter Konsens und ist es auch heute noch. Doch seit dieser militärische Konflikt angefangen hat, sich immer mehr in die Länge zu ziehen, verliert er zusehends an Aufmerksamkeit.
Andere Themen spielen für uns eine grössere Rolle: Vielleicht die Problematik der sogenannten Lieferketten, Hindernisse und Verzögerungen in der Produktion und Beschaffung von Gütern – grösstenteils Nachwehen der Corona Jahre. Eine Inflation wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr kannten, nicht nur im Energiebereich, sondern bis hin zu Lebensmitteln. Steigende Zinsen, ein Alptraum für alle, die Kredite aufnehmen müssen oder investieren wollen.
Aber letztlich sind auch diese Themen schon wieder dabei, an Bedeutung zu verlieren. Zumindest bei uns in den reichen Ländern des Westens, wo der Staat darauf achten muss, einen akzeptablen materiellen Lebensstandard zumindest für die meisten von uns aufrecht zu erhalten – auch um den sozialen Frieden wahren zu können.
Im Notfall gibt es eben die Transferzahlungen aus der Staatskasse. Zuwendungen der öffentlichen Verwaltung an diejenigen unserer Gesellschaft, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, sich selbst mit eigenen Mitteln über Wasser zu halten. Auch wenn man ehrlicherweise anmerken sollte, dass diese Zuwendungen in den meisten Fällen gerade mal dazu ausreichen, den Absturz in die bitterste Not und Obdachlosigkeit zu verhindern.
Aber was, wenn die Steuereinnahmen des Staates, beispielsweise bei einer länger anhaltenden Rezession, in die Tiefe rauschen und damit unter anderem auch jene Transferzahlungen an die sozial Benachteiligten von uns in Gefahr bringen? Dann leihen sich die Regierungen unserer Staaten ganz einfach weiteres Geld und treiben die Staatsverschuldung weiter in die Höhe.
Doch wer, welche Partei, Bewegung, fordert ein entsprechendes radikales Umdenken, um diese gefährlichen Fehlentwicklungen unserer Zivilisation wirklich zu überwinden?
Nichts wirklich Neues, das kennen wir mittlerweile seit Jahrzehnten, es gäbe also auch hier keinen Grund zur Panik. Ja, und auch im Worst-Case-Szenario, dass sich ein Staat so stark verschuldet, dass er kurz vor einer Staatspleite, also der Zahlungsunfähigkeit, stünde, gäbe es noch weitere beliebte Möglichkeiten der Abhilfe aus der Trickkiste des Kapitalismus: Wie etwa die Umschuldung, den Schuldenschnitt oder die Privatisierung, dem Ausverkauf öffentlicher Unternehmen, Güter und Dienstleistungen. Letzteres wird seit Jahren schon fleissig praktiziert. Erst danach, wenn auch diese Instrumente nicht mehr greifen, würde es tatsächlich kritisch werden, für alle von uns.
Denn Dreh- und Angelpunkt unseres globalen Sozial- und Wirtschaftsmodells ist die Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln (Geld) bei gleichzeitigem Erhalt des Geldwertes (zur Kontrolle der Inflation, Stabilisierung der Kaufkraft). Von daher, worum geht es in unserer Gesellschaft vorrangig, oder, anders gefragt, was könnte alles zum Stillstand bringen? Die Antwort: Der Mangel an Geld.
Ohne Geld wird nicht investiert, nicht produziert, werden keine Arbeitsplätze geschaffen, wird keine Kaufkraft, keine Nachfrage kreiert. Ohne Geld kann man keine Nahrung kaufen, gibt es kein Schul- und kein Gesundheitswesen, werden keine Häuser gebaut. Ohne Geld wird keine Energie produziert, läuft keine Industrie, Computer, Fernseher, kein Auto, keine Untergrundbahn, fliegt kein Flugzeug, funktioniert kein Smartphone. Ohne Geld bleibt alles stehen, und am Ende geht das Licht aus und die Heizung wird kalt. Ohne Geld gibt es auch keine Steuereinnahmen, somit auch keine öffentlichen Dienstleistungen der existenziellen Daseinsversorgung und keine soziale Abfederung. Müssig zu erklären, was das für Konsequenzen hätte.
Eine moderne und emanzipierte Gesellschaft wird von daher nicht umhinkommen, früher oder später das Tabu eines auf monetärem Austausch von Waren und Dienstleistungen basierenden Wertesystems aufzubrechen. Damit würde auch eine Neudefinition der Grund- beziehungsweise Menschenrechte einhergehen. Endlich vielleicht: Denn ein Recht, und ein Grundrecht eines Menschen ohnehin, muss unmittelbar gelten und zur Verfügung stehen, und darf infolgedessen nicht an eine monetär bestimmbare Verfügbarkeit durch den einzelnen Menschen gekoppelt sein.
Welche Rechte, Menschenrechte könnten gemeint sein? Einige Beispiele: Gesundheit – medizinische Forschung und bestmögliche Versorgung der Bevölkerung, auch im Katastrophenfall, sollten weltweit zum universellen Menschenrecht erklärt werden, befreit von der Voraussetzung existierender finanzieller Ressourcen (im Klartext, entprivatisiert und verfügbar ohne dass es Geld braucht).
Doch es gibt eine gewisse Hoffnung, sonst würde ich diese Zeilen erst gar nicht schreiben.
In ähnlicher Weise muss eine ausreichende und vollwertige Ernährung sowie der Zugang zu sauberem Trinkwasser zu einem Menschenrecht für uns alle werden. Aber auch das Recht auf eine würdige Unterkunft, auf eine ganzheitliche (von Wirtschaft- und Staatsinteressen befreite) Ausbildung, sowie das Recht auf objektive Information und unzensierte Kommunikation gehören zu unserer Vorstellung einer modernen aufgeklärten Gesellschaft. Und da nützt es nichts, wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen teils verklausuliert einige dieser Rechte fordert, aber gleichzeitig nicht realistisch vorgibt, wie dies konkret umzusetzen und zu erreichen ist. Es sind Appelle, mehr nicht. Sie bleiben verkettet mit einer Reihe von Voraussetzungen, neben dem politischen Willen, insbesondere der Zurverfügungstellung ausreichender finanzieller Ressourcen (Geld).
Die drastischen Kennzeichen unserer heutigen Wirklichkeit sind alarmierender denn je und fordern zudem auch ein übergeordnetes radikales Umdenken. Eskalierender Konsumwahn, Stress, Zunahme psychischer Krankheiten, Klimawandel und Umweltzerstörung, Kriege und sich verschärfende Militarisierung, klaffende Armutsscheren, Ungerechtigkeit, Massenmigration, Ausgrenzung, Vereinsamung, intellektuelle Verflachung der Menschen, Nationalismen, Populismus und Radikalisierung sind nur einige Aspekte unserer globalen Wirklichkeit. Doch wer, welche Partei, Bewegung, fordert ein entsprechendes radikales Umdenken, um diese gefährlichen Fehlentwicklungen unserer Zivilisation wirklich zu überwinden?
Was fundamental nötig ist, heute mehr denn je zuvor, ist eine starke gesellschaftliche und damit politische Plattform zu kreieren, möglichst in der Mitte der Gesellschaft verankert, die in der Lage ist, tabulos progressive politische Reformen auszuarbeiten, diese öffentlich zu vermitteln und zukünftig die Realpolitik in den Staaten unserer Welt mit zu beeinflussen. Doch es fehlt eine solche Instanz als Orientierung, als Ansprechpartner. Es fehlt eine entsprechende Struktur, es fehlt eine solche Bewegung, eine solche Partei.
Die sogenannten progressiven oder als links bezeichneten politischen Parteien sind quasi weltweit allesamt gescheitert, sind im Auflösungsprozess, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren oder üben sich frenetisch im sozial- und umweltpolitischen Abdämpfen der Konsequenzen eines globalisierten Kapitalismus. Und dies, weil sie entweder nicht willens oder nicht fähig sind, die grundsätzlichen Problematiken und Irrwege unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, in Frage zu stellen und in konkrete konsequente Reformpolitiken zu übersetzen.
Doch es gibt eine gewisse Hoffnung, sonst würde ich diese Zeilen erst gar nicht schreiben. In meinen Gesprächen mit Menschen ganz unterschiedlicher Weltanschauung, auch mit Vertretern verschiedenster politischer Parteien und Bewegungen aus der Zivilgesellschaft habe ich über viele Jahre erfahren dürfen, dass die meisten von uns viel aufgeschlossener sind, als man denkt. Viele glauben zwar nicht, dass möglicherweise als radikal bezeichnete Veränderungen für eine Neugestaltung unseres Gesellschaftsmodells jemals Realität werden könnten, und halten diese somit für utopisch. Doch zeigen sie gleichzeitig Verständnis und begegnen vielen dieser Forderungen mit Sympathie – eine Grundvoraussetzung für jedes gemeinschaftliche Projekt.
Jetzt aber konkret – und zurück zum Ziel der Schaffung einer gesellschaftlichen Plattform oder Allianz. Welche – sagen wir mal für den Anfang – drei Forderungen, auf die man sich im Konsens innerhalb der Plattform verständigen müsste, könnten eine Chance haben, eine gesellschaftliche Zustimmung zu erreichen? Ich meine damit Forderungen, denen sich, neben sozialen und Umweltbewegungen, Kirchen, Gewerkschaften, ja vielleicht auch einige Parteien, vor allem der Normalbürger, Menschen aus der politischen Mitte, anschliessen könnten - ohne viel Kopfzerbrechen, ohne sich gross verbiegen zu müssen.
Forderungen, die sich eine neue Bewegung, eine breite gesellschaftliche Plattform, vielleicht eines Tages eine neue Partei auf die Fahnen schreiben würden. Man könnte den Versuch wagen, sich zunächst nur auf einige wenige Themen zu konzentrieren, die den meisten schnell einleuchten, wie beispielsweise die folgenden drei:
Forderung Nummer 1: Das Recht auf eine eigene Wohnung - Reform des Wohneigentums
Die monatliche Miete für die Wohnung, in der man lebt, ist einer der grössten, möglicherweise sogar der grösste Kostenpunkt für einen Menschen, eine Familie oder sagen wir für einen Haushalt in Ländern mittleren und hohen Einkommens. Hierbei seien die monatlichen Tilgungszahlungen für die Eigentumswohnung, in der man selber lebt, ausdrücklich mit einer Miete gleichzusetzen. Die Höhe der Miete ist für viele Betroffene ein grosses, oft existentielles Problem. Die Notwendigkeit, den monatlichen Zahlungen nachzukommen, und die Angst vor einem möglichen Rauswurf, vor einer drohenden Enteignung sind für viele ein Problem, das sie das ganze Leben begleitet.
Vor allem in Ballungsgebieten und Städten ist der Wohnungsmarkt angespannt, sind die Mieten fast unbezahlbar geworden. Das hat viele Gründe, vor allem aber denjenigen, dass Wohnungen, zumal Mietwohnungen, knapp geworden sind. Das Marktangebot ist im Vergleich zur durch die globale Urbanisierung angeheizte Nachfrage gering, was den Preis immer höher treibt.
Es ist zwar richtig, reicht aber nicht aus, von der öffentlichen Hand die Regulierung und Subventionierung der Mietpreise, oder den Bau immer weiterer Wohnungen zu fordern. Nein, um jedem die Möglichkeit zu geben, in einer würdigen Wohnung zu leben, müssen wir auch das Wohneigentum neu definieren. Das Recht auf eine würdige Unterkunft, die Sicherheit zu wissen, dass niemand einen auf die Strasse setzen kann, muss für alle Menschen gelten.
Wie kann es sein, dass wir es zulassen, ganz legal, dass einzelne Menschen zwei, drei, vier oder Dutzende Wohnungen oder gar Häuser, dass Unternehmen hunderttausende Wohnungen besitzen können und gleichzeitig Millionen von Menschen keine einzige Wohnung ihr Eigen nennen dürfen? In Deutschland beispielsweise werden über 75% der bewohnten Mietwohnungen von Privatpersonen oder Unternehmen vermietet. Das heisst, die Eigentümer selbst wohnen nicht in diesen Wohnungen, sondern besitzen mindestens noch eine weitere Wohnung oder ein Haus, wo sie selber leben. Was den Besitz von Wohnraum angeht, sollten wir deshalb eine Obergrenze rechtlich festschreiben, beispielsweise nicht mehr als zwei Wohnungen (oder Wohneinheiten/Einfamilienhaus) pro Person. (Über vorzuschlagende Höchstgrenzen und entsprechende auszuarbeitende Details würde man diskutieren und Entscheidungen im Konsens suchen. Der hiergenannte Nennwert von zwei Wohneinheiten ist somit nur einer von vielen möglichen.)
Alles darüber hinaus gehende Wohneigentum sollte, bei gleichzeitiger Entschädigung des Eigentümers, vergesellschaftlicht und entsprechend Wohnungssuchenden und Wohnungslosen angeboten werden. Aufgrund des damit erhöhten Angebots würde sich unter anderem auch der Wohnungsmarkt entspannen und die Mietpreise zurückgehen.
Forderung Nummer 2: Die Vergesellschaftung natürlicher Ressourcen
In den meisten Ländern unserer Welt ist unbegrenztes Privateigentum an Grund und Boden selbstverständlich, obwohl Boden ein begrenztes und nicht vermehrbares Gut auf unserem Planeten darstellt. Wir kennen sie alle, die Bilder vom Grossgrundbesitz in den Ländern Nord- und Südamerikas, Asiens und Afrikas. Aber auch in Europa nimmt die Besitzakkumulation von Grund und Bodenimmer drastischere Ausmasse an. Land bis wohin das Auge sehen kann, bis zum Horizont, und alles gehört einer einzelnen Person, einer Familie oder einem Unternehmen.
Da es sich um Privateigentum handelt, kann ich als Besitzer damit de facto meist tun und lassen, was ich will. Es so belassen, wie ich es vorfinde, es abholzen und in landwirtschaftliche Fläche verwandeln, das Grundwasser anzapfen, Golfplätze anlegen, den Boden aufbrechen, um Bodenschätze zu heben oder Energiequellen zu erschliessen oder was auch immer. Vielleicht brauche ich für das eine oder andere eine Genehmigung, aber irgendwie geht das schon. Während Milliarden Erdenbewohner keinen einzigen Quadratmeter an Boden besitzen, nimmt die Konzentration von Landbesitz in immer weniger Händen dramatisch zu. Dies lassen wir anstandslos zu, haben durch unsere Gesetze selber die legale Grundlage dafür geschaffen.
Nicht nur die elementaren Faktoren für das biologische Leben, nämlich Sonnenlicht, Atemluft und Wasser, sondern alle natürlichen Ressourcen unseres kleinen Planeten wie Flora und Fauna, Böden, natürliche Landschaften, Flüsse, Seen und Meere sowie vorhandene Bodenschätze sollten als unwiderruflicher Teil des Gemeingutes deklariert werden, unter dem ausdrücklichen Schutz der Gesellschaft stehen, entprivatisiert und jeglichen Partikularinteressen entzogen.
Grund und Boden, der in seinen Ausmassen über den maximalen für eine Familie benötigten Wert (Parameter: Beispielsweise die Fläche für eine theoretische Selbstversorgung) hinausgeht, sollte als Teil des Gemeingutes deklariert werden. Sofern gesellschaftlich als notwendig angesehen, könnte dieses Land weiterhin für eine wirtschaftliche oder landwirtschaftliche Nutzung gepachtet und genutzt werden.
Forderung Nummer 3: Garantierter Mindestlebensstandard für alle Menschen
Auch dies kennen wir alle: Warum dürfen die einen in geräumigen, komfortablen Altbauwohnungen in den schönen Stadtvierteln leben, während andere in kleinen, vielleicht dunklen Wohnungen schlechter Qualität und dazu in schmucklosen oder verwahrlosten Vierteln der Peripherie hausen müssen? Warum können sich die einen Zahnimplantate einsetzen lassen, während die anderen ihre Zahnlücken nur mit minderwertigen Prothesen notdürftig schliessen müssen, wenn überhaupt? Warum dürfen die einen nach Polynesien in den Urlaub fliegen, während die anderen keinerlei Möglichkeiten haben, irgendwohin zu fahren oder überhaupt Urlaub zu machen? Warum dürfen die einen zum Essen ins Restaurant gehen, während andere sich vielleicht nur mal was an der Frittenbude leisten können oder gar in Mülltonnen nach Essensresten suchen? Warum dürfen die einen ihren Lebensabend in einer schmucken Seniorenresidenz verbringen, während die anderen in kleinen Wohnungen verwahrlosen oder in Altenheimen im stinkenden Mehrbettzimmer untergebracht werden? Und so weiter und so fort. Die Liste der Ungleichgewichte in der Lebensqualität ist lang und unerbittlich.
Und was ist mit den vielen hunderten von Millionen Menschen in den anderen Ländern, die unter anderem der fortschreitende Klimawandel, grösstenteils auch durch unsere Konsum- und Energiegier mitverursacht, zu Migranten, zu Flüchtlingen macht und in die Armut treibt? Was ist mit den Opfern militärischer Auseinandersetzungen, denen Gliedmassen amputiert werden müssen, die erblinden? Was mit den Menschen, die an heilbaren Krankheiten leiden, aber kein Geld haben, sich medizinisch behandeln zu lassen? Was ist mit den Betroffenen ideologischer, kultureller und religiöser Erniedrigung und Ausgrenzung, vor allem von Frauen? Die meisten von ihnen wohnen nicht bei uns, dies ist ihnen meist nicht bei uns widerfahren, aber dennoch, auch diesen Mitmenschen zu helfen, ihnen moderne Prothesen zukommen lassen, sie operieren lassen zu können, sie aus der Armut rauszuholen, sollte uns als moderne und emanzipierte Gesellschaft ein Anliegen sein.
Wir haben genug Geld übrig, um Experimente im Weltall durchzuführen, astronomische Ausgaben für militärisches Zerstörungsmaterial und Videospiele auszugeben, die Innenstädte nachts zu beleuchten, gigantische Einkaufszentren und Sportarenen zu errichten und uns dort zu amüsieren und so viel jeden Tag zu essen, dass ein Grossteil unserer Bevölkerung und selbst unserer Kinder übergewichtig sind.
Aber uns, der Gesellschaft, dem Staat, fehlen scheinbar gleichzeitig die finanziellen Mittel, um leidenden Menschen aus materiellen und sozialen Notlagen zu helfen. Nein, die finanziellen und instrumentellen Möglichkeiten sind da. Was fehlt ist der politische Wille und eine Neuorientierung gesellschaftlicher Prioritäten. Von daher sollten wir fordern, dass allen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht und somit ein akzeptabler Lebensstandard gewährt werden kann. Fangen wir in unserem eigenen Land damit an.
Vielleicht gehen einigen von uns schon diese drei Forderungen zu weit. Aber das allein wäre kein Problem. Im Gegenteil, denn viel wichtiger als dem einfach zuzustimmen, ist zunächst, eine öffentliche Debatte über solche und ähnliche Forderungen zu beginnen, indem man sie in die gesellschaftliche Mitte trägt. Ich habe keinen Zweifel, dass sich aus so einem Prozess auch die Möglichkeit ergeben würde, eine breite gesellschaftliche Plattform zu formieren, die sich zunächst auf wenige Forderungen im Konsens einigt, um mittelfristig Einfluss auf unsere Zukunft nehmen zu können. Es gäbe unzählige andere Forderungen mit denen man beginnen könnte, eine breit aufgestellte gesellschaftliche Kraft zu formieren, um erste kleine Schritte hin zu einem Systemwechsel zu versuchen. Ja, die Politik der Zukunft kann und muss aus der radikalen Mitte kommen.
von:
Über
Albert Tullio Lieberg
Albert T. Lieberg, geb. 1963 in Mailand, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er promovierte im Bereich Internationale Entwicklungspolitik an der Universität München. Seit über 25 Jahren arbeitet er als leitender Funktionär sowie Landesdirektor und Berater für die Vereinten Nationen, andere multilaterale Organisationen sowie als Regierungsberater mit Erfahrung in über 60 verschiedenen Ländern - 2024 in Palästina. Seine Arbeitsfelder beinhalten die Erarbeitung und Umsetzung von nationalen und regionalen Entwicklungsstrategien, wirtschaftlichen Investitionsvorhaben und sozialpolitischen Stabilisationsprogrammen. Lieberg entwickelt zudem Wiederaufbauprogramme und Maßnahmen zur Befriedung und Konfliktvermeidung, insbesondere in Krisengebieten. Zusätzlich ist er seit vielen Jahren weltweit in globalisierungskritischen Bewegungen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und der sozialen Gerechtigkeit tätig. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem «Der Systemwechsel: Utopie oder existentielle Notwendigkeit?» (Sachbuch, 2018) oder zuletzt «Endbericht» (Roman, 2024).
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