«Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl»
Wie ich meine Angst vor dem Singen überwand und sich der Traum vom Auftritt in die Lust an der Verbundenheit verwandelte.
Jesùs hängt sich an unsere Hüften. Oder sagt uns, den Singenden beim Becken zu halten und tief tief in die Erde zu ziehen. Ich stehe vor dem Klavier und nehme Töne ab. Ein Teil von mir will wegfliegen. Andreas hält mich fest. Ich muss nicht gedanklich aufdrehen, sondern Klänge aus dem Bauch her hochschicken. Jawohl! Meine schöne, kräftige Stimme ergiesst sich ins Unerhörte.
Ich bin in im Centre artistique international Roy Hart in Malérargues, einem Weiler in den französischen Cevennen. Die Roy-Hart Leute schaffen seit den 60-er Jahren Zugänge zu Gesang und zu Theater, die alle Töne, auch die schrägsten einschliessen und alle Impulse des Körpers willkommen heissen. Jesùs Munoz ist einer unserer drei Workshop-Leiter. Jesùs macht seit Jahrzehnten Theater. Und Musik.
Stimme, Körper. Wie nahe das zusammenhängt. Den halben Morgen wringen wir unsere Körper aus, schütteln, dehnen, klopfen, vibrieren, lassen die Wirbelsäule hin und herspicken und massieren uns gegenseitig. Wir bereiten uns vor, frei zu werden, durchlässig zu sein.
Immer wieder haben Menschen meine dunkle leuchtende Stimme bewundert. Aber ich schämte mich zu singen. Ich traf Melodien mehr schlecht als recht. Doch heimlich bewahrte ich eine Sehnsucht nach dem grossen Auftritt.
Wir stehen im Raum und rezitieren jeder sein eigenes, selbst verfasstes, auswendig gelerntes Gedicht. Entstanden aus dem stundenlangen Seufzen, Stöhnen, Tönen, Singen. Sie zeugen vom Wind, der die eigene Stimme fortträgt, vom Durchdrungenwerden, von Disharmonien. Aber was heisst rezitieren? Wir weinen unsere Texte. Wir zerren sie an den Konsonanten herbei. Wir wälzen uns am Boden und schütteln sie brockenweise aus uns heraus.
Mit 21 hätte ich Schauspielerin werden wollen. Aber ich fand, ich hätte Übergewicht und verzichtete kurzfristig auf meinen Vorsprechtermin.
Und überhaupt, wohin hätte das alles geführt, Schauspielern und Singen? Meine Schwester absolvierte in jener Zeit nach der Matura ein Praktikum an einem Freien Theater. Mein Vater unterbrach den Geldstrom, bis sie sich, wie er es wünschte, dem Psychologiestudium zuwandte.
Obwohl ich keine protestantischen, sondern muslimische und katholische Wurzeln habe, schien Max Webers «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» wie auf unsere Familie zugeschnitten. Immer höher, immer besser, immer weiter. Erfolg, der sich am Geld bemass. Als er 14 war, teilte mir mein Sohn mit, er wünsche sich, Schauspieler zu werden, verzichte aber darauf, weil man dabei zu wenig verdiene. Damals atmete ich auf.
Ich habe das Gefühl, endlich zuhause angekommen zu sein. Ich schreie, flüstere, singe «Wer bin ich, wenn aus meinen Kehlen der Nymphen Quellen klingen?» Viele andere im Kurs sind ausgebildete Schauspieler oder Sängerinnen, oder singen schon lange in einem Chor. Ihnen fühle ich mich zugehörig. Diese Freiheit, sich den Impulsen des Geistes, der Stimme, des Körpers hinzugeben, um die Wahrheit des Moments aus sich herauszuholen. Immer weiter einzudringen in die Freiheit, mit jeder Zelle zu tönen.
Natürlich verhaue ich mich immer wieder mit den Harmonien. Nur schäme ich mich nicht mehr zutiefst. Ich will weiterkommen. Der Traum, auf einer Bühne zu stehen und mit der Stimme zu improvisieren, ist immer noch präsent. Aber es muss nicht sein. Was sein muss, ist diese Erfahrung von Verbundenheit mit mir, meiner Seele, meinem Körper und den anderen. Dieses Gefühl des ganz Aussersichseins und gleichzeitig zutiefst in sich verankert zu sein.
Ich stehe mit einer jungen Sängerin im Raum. Die anderen zwölf Gruppenmitglieder schauen zu. Jeder und jede wird eine kurze Begegnung spielen, Szenen, so kurz sie auch sind, die jedes professionelle Theater in den Schatten stellen werden. In meinen Augen. So intensiv, so voller Leuchtkraft, so wahrhaftig.
Kontakt, hatte Jesùs gesagt, etabliert zuerst nur den Kontakt. Ich und Giulia sehen uns an. Mir rinnen die Tränen aus den Augen. «Wo ist dein Schmerz, Giulia?», fragt Jesùs die junge Spielerin. Er zitiert eine Textstelle aus ihrem kurzen Gedicht. «Sprich deinen Text aus dieser Körperstelle heraus.» Wir wirbeln und tanzen, springen und flüstern, schreien und singen. Später wird Jésus zu mir sagen: «Wow, so viel Präsenz!»
Vielleicht ist es meinem Alter geschuldet. Die Nützlichkeitsdruck nimmt ab. Die Sinnfrage hat plötzlich so viel Platz wie in einem etwas in die Jahre gekommenen Gartenschwimmbecken.
Alt ist man, wenn man allen Herausforderungen aus dem Weg geht. Vielleicht ist dies die Schlüsseldefinition, jedenfalls die meinige. Ich mache jetzt Dinge, für dich ich mich lange für ungeeignet hielt. Ich besuche Contact-Improvisationslektionen, wo es darum geht, sein Gewicht anderen abzugeben, sanft übereinanderzurollen, sich auf den andern zu stützen, mit dem Kopf, zwei Beinen, dem Becken. Handstand, Kopfstand, Rollen vorwärts und rückwärts. Akrobatik ist nicht mein Ding. Aber ich bleibe dran. Denn die Körperarbeit macht mich glücklich.
Nach einer Lektion, in der Laurent Stéphan mit mir übte, Töne zu treffen, fiel es mir wie Schuppen von den Ohren: Ich hatte als Kind meine Ohren zugemacht, um den harschen Anweisungen und dem dauernden Gemassregeltwerden durch meine Eltern zu entgehen. Ich hatte mir zwar so meine innere Welt bewahrt, aber für die Musik ist das höchst hinderlich. Beim Singen musst du gleichzeitig ganz bei dir und den anderen sein.
Ich hatte als Kind meine Ohren zugemacht, um den harschen Anweisungen und dem dauernden Gemassregeltwerden durch meine Eltern zu entgehen.
Und in der Tat, ich hörte mich beim Singen gar nicht. Das wurde mir erst mit Laurent bewusst. Durch das Tönen in einem der Gewölbekeller in Malérargues hiess mich Laurent dem Echo meiner eigenen Töne zu lauschen. Ab dem Moment hörte ich meine Stimme, auch wenn wir im Chor singen. Vorher hatte ich mich meine Klänge eine Art weggeworfen, aufs Geratewohl, total unkontrolliert, in der vagen Hoffnung, ich würde das Lied irgendwie richtig intonieren.
Es war, wie wenn ich beim Velofahren beide Augen schliessen würde. Ja, das Singen ist ein Spiegel des Lebens. Das hatte mir auch schon Lydia gesagt, eine Teilnehmerin, eine der Fortgeschrittenen, die selber Singkreise leitet und a capella singt.
In der Abschlussperformance sang ich ein arabisches Lied von Marcel Khalife «Ummi» (Meine Mutter). Ich hatte mir vor zwei Jahren vorgenommen, es meiner Mutter zum 80. Geburtstag vorzusingen. Aber ich las es ihr schliesslich nur vor. Jetzt verschmolz ich mit dem Gesang. Ob ich immer die Töne traf, war egal. Ich hatte erfahren, dass Singen nicht nur darin besteht, den Akkorden zu dienen.
Vor dem Workshop in Frankreich war ich mir vorgekommen wie Aschenputtel. Auf ewig eine Bittstellerin, für immer ausgeschlossen, die höheren Weihen des Gesangs zu empfangen. Ich hoffte verzweifelt auf einen goldenen Feenregen, der mich im Handumdrehen in eine Sängerin verwandeln würde. Nach dieser Woche weiss ich klarer. Es ist nicht «to be or not to be» a singer (ein Sänger sein oder nicht).
Singen ist vergleichbar mit Muskeltraining. Genauso wie ich Yoga, Tanzen oder Schwimmen ausübe. Mit der Zeit erlangt man Gelenkigkeit, Kraft und Präzision Es hat nicht so viel mit den eigenen Begrenzungen als mit der eigenen Leidenschaft zu tun. Lass ich mein inneres Feuer so sehr lodern, dass ich in der Hitze des Feuers das Eisen schmiede?
Und dass mir auch, zu retten mein sterblich Herz,
Wie andern eine bleibende Stätte sei,
Und heimatlos die Seele mir nicht
Über das Leben hinweg sich sehne,
Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!
Mein erster Freund hatte mir diese Gedichtzeilen von Friedrich Hölderlins «Mein Eigentum» vor ziemlich genau 40 Jahren in Frankreich vorgesagt. Hölderlin wurde zu einem meiner Lieblingsdichter. Gesang übersetzte ich bisher immer grosszügig mit Dichtung. Dank Roy Hart hatte ich nun erfahren, dass auch Gesang, ja das Singen, «mein freundlich Asyl» sein können.
In der Abschlussrunde sagte Jesùs: «Allein schon in eure glücklichen Gesichter zu sehen, allein schon eure Entwicklung zu bezeugen, die ihr alle gemacht habt, zeigt mir, wie sinnvoll unsere Arbeit ist.»
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