Überbringt ein Kind dem Brautpaar die Ringe, sind alle gerührt. Auch, wenn es ein Junge tut. Nur er selbst ist nicht gerührt.

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Wenn ein Mädchen dem Brautpaar an einer Trauung die Ringe bringt, ist das ein rührender Augenblick. Herzig herausgeputzt, mit kindlichem Stolz, trägt die kleine Prinzessin das Kissen mit den Ringen darauf nach vorn, um es den frisch Vermählten andachtsvoll hinzuhalten. Glücklich, seine Aufgabe zur Freude aller erfüllt zu haben, geht das Kind danach zurück an den Platz. Ich habe mich schon gefragt, warum die Mädchen alle so gern diese Rolle spielen. Und ich habe noch immer nur eine Antwort darauf: weil sie Mädchen sind. Weil sie Heiraten spielen lieben.

Jedes zehnte Mädchen möchte später vielleicht nie seinen Prinzen finden. Es gibt immer ein zehntes Mädchen. Es gibt immer die Ausnahme. Aber die anderen neun bleiben die Regel. Und Regeln ändern sich in tausend Jahren nur einmal.

An der Trauung, die ich vor ein paar Wochen gestaltete, war es ausnahmsweise ein Junge, der die Ringe nach vorne brachte. Er schien mir ungefähr 10 zu sein, kein Dreikäsehoch mehr, sondern bald schon ein richtiger flaumiger Jugendlicher. Doch offenbar war er an dieser Hochzeit das einzige Kind, das für die Ringübergabe in Frage kam. Widerwillig und steif, in eine Rüstung gesteckt, die zu gross für ihn war, bewegte er sich auf mein Zeichen nach vorn und stellte sich vor das Brautpaar. Er tat es mit Todesverachtung. Zwar gab er sich Mühe, das Kissen so zu halten, dass keiner der Ringe zu Boden fiel. Aber eigentlich wünschte er sich etwas anderes.

Er wünschte sich eine kleine, unabsichtliche Sabotage. Er hätte das Kissen schief halten können. Ein klein wenig schief. Ohne die leiseste böse Absicht. Dann wären die Ringe vom Kissen gerutscht und davongerollt. Die ganze Hochzeitsgesellschaft hätte sie suchen müssen. Das hätte dem Jungen gefallen. Es hätte ihm seine Ehre zurückgegeben.

Doch nichts von alldem geschah. Zur Freude aller erfüllte er seine Pflicht. Die Pflicht, die er auf sich genommen hatte, um artig zu sein. Aber eigentlich wollte er gar nicht artig sein. Und am allerwenigsten wollte er herzig sein. Man sah es ihm an. Er war unzufrieden mit sich. Kaum hatte das Brautpaar den Ringtausch vollzogen, kaum war das Kissen leer, gab er es mir zurück. Er liess es los, als könnte es ihn vergiften.

Dann wollte er gehen. Die glückliche Braut strich ihm übers lockige Haar. Sie wollte ihm danken. Sie fand ihn süss. Alle fanden ihn süss – alle, die es nicht merkten. Er aber wollte einfach nur gehen.

Zurück an den Platz. Zurück zu sich selbst.

16. Oktober 2021
von:

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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