Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

«Die Wassergeister verzogen sich eilig.» / © Nicolas Lindt

An einem hochsommerlichen Wochenende einen kühlenden Badeweiher in der Nähe zu wissen, ist wunderbar. Der etwas lauschige und verwunschene kleine Waldsee verfügt weder über eine Badeanstalt noch über Parkplätze. Er kann nur zu Fuss erreicht werden. Unter der Woche gehört er deshalb den Einheimischen. Doch am vergangenen Sonntag blieben wir nicht unter uns.

Eine fröhliche junge Familie mit fröhlich bellendem Hund hatte den Weiher für sich entdeckt, und während der Vater mit den drei Kindern am hinteren Ende des kleinen Sees zwei Gummiboote aufpumpte, liess sich die Mutter – bäuchlings auf einer Luftmatratze liegend und vom leichten Winde bewegt – gemütlich über die Wellen treiben. Man kennt sich am Weiher, doch diese Familie kannten wir nicht. Was keinen Unterschied macht. Hier sind alle willkommen.

Als Julia und ich, wie wir das immer tun, vom einen Ende des Weihers zum anderen schwammen, kamen wir auch an der Mama auf der Luftmatratze vorbei. Unbewegt lag sie da, als würde sie schlafen, nur hin und wieder schlenkerte sie ihre Beine ein wenig oder scheuchte mit der Hand eine Fliege beiseite. Da wir uns unterhielten, merkte sie zweifellos, dass wir näherkamen. Doch sogar dann, als wir ihre Höhe erreichten, wandte sie uns nicht den Kopf zu, damit man sich grüssen konnte. Sie ignorierte uns, als wären wir Luft, und verriet sich damit als Städterin.

Denn die Stadtmenschen oder jene, die sich so fühlen, grüssen nicht. Ihre urbane Einstellung betrachtet diese alte Gewohnheit als unnötig. Als viel zu vertraulich. Dass wir uns auf dem Land das Grüssen gewohnt sind, finden sie lästig. Weil sie den Gruss dann erwidern müssen. Also schwammen wir an der Dame auf der Luftmatratze vorbei und verschonten sie von unseren Bräuchen. In ihrer hochverdienten Familienpause wollten wir sie nicht stören.

Auf unserem Rückweg wiederholte sich die grusslose Szene, obwohl die junge Frau Mutter im gleichen Moment, als sie sich uns hätte zuwenden können, ihren Liebsten winkte, die sich jetzt in den aufgeblasenen Gummibooten eifrig rudernd und navigierend auf sie zubewegten. Wir dagegen waren nicht wichtig.

Nachdem wir das Wasser verlassen hatten und uns abtrockneten, ging der Badespass am hinteren Ende des Weihers in seine nächste Phase. Herzhaft lachend und rufend war die fröhliche junge Familie damit beschäftigt, Luftmatratze und Gummiboote aneinanderzuhängen, um so gemeinsam mit der Mama ganz vorn Kurs in unsere Richtung zu nehmen.

Erst jetzt bemerkten wir eine zweite Frau, vermutlich auch sie die Mutter eines der Kinder. Den Wortfetzen, die die Luft erfüllten, entnahmen wir, dass sich die Frauen über die etwas weiter entfernt liegenden Parkplätze unterhielten. Denn die eine meinte gerade: «Also, einerseits wollen sie Geld für den Parkplatz, und andererseits … »

Das Andererseits ging im Lachen der Kinder unter. Doch ich brauchte es gar nicht zu wissen – denn Menschen, die so argumentieren, sind Artgenossen, die strukturiert zu denken gewohnt sind. Wer einerseits sagt, hat im Kopf bereits vorgeplant, was er andererseits gesagt haben möchte. Menschen, die so reden, können ihre Sätze problemlos mit Erstens beginnen, weil sie schon zweitens wissen, wie es sich drittens verhält. Manchmal rede auch ich so. Aber es ist kein fliessendes Denken, das weiss ich. Sondern ein städtisches Denken.

Die hin und her geworfenen Sätze nahmen an Lautstärke zu, je mehr sich die Boote uns näherten. Die Wassergeister verzogen sich eilig, und Augenblicke später bereits glitt die Flotte in lustiger, bisweilen schwankender und genussvoller Fahrt an uns vorüber. Auch der Hund der Familie schwamm nebenher. «Ciao mitenand», riefen wir der Armada zu, bevor wir sowieso gehen wollten. Wir riefen es arglos. So verabschiedet man sich hier. Einheimische, denen das freie Baden in einem Waldsee gefällt, machen keine Umstände. Sie lächeln sich zu und sagen sich du.

Doch wie erwiderte die Frau auf der Luftmatratze, unter Andeutung eines Winkens, unseren Abschiedsgruss? «Ade», sagte sie. Menschen, die kurz und knapp «Ade» sagen, sind nach meiner Erfahrung Menschen, die auf Distanz bleiben wollen. Sie sehen keine Veranlassung, sich mit uns zu verbrüdern. Es sind Zeitgenossinnen, die von sich aus nicht grüssen. Sie bewegen sich während der ganzen Woche in ihrer eigenen eingebildeten städtischen Blase, und sie brauchen das Land nur am Sonntag. Sie brauchen es nur als Kulisse. Und sie schwärmen vom Land, als hätten sie es gesehen. 

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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Kommentare

Ähh, wie bitte?

von mfuchs
Ich dachte der zeitpunkt steht für Dialog, Friedensförderung und Mitgefühl. Das hier klingt eher nach dem Geläster eines unzufriedenen genervten Menschen auf Facebook. Nicht dass ich ähnliche Regunģen und Gedanken nicht auch schon hatte, aber ich drucke sie nicht in eine Zeitschrift. Bin enttäuscht. Liebe Grüsse Martin