Strukturelle Hyperinflation einfach erklärt
Fehlende Ressourcen, eine Neuorganisation der Warenflüsse, das Ende der Dollar-Hegemonie und eine überschiessende Geldschöpfung – diese Mischung zwingt uns, den nackten Tatsachen ins Auge zu blicken
Das Zeitalter der Ressourcenknappheit, vor dem uns kluge Leute seit über 30 Jahren warnen, ist endlich da. Zur Bestätigung dieser beiläufigen Beobachtung genügt der Besuch einer Tankstelle oder ein Blick auf die Stromrechnung zu werfen und die Feststellung, dass die Preise etwas gestiegen sind. Der Begriff «etwas» mag wie ein Scherz klingen, denn eine Verdoppelung des Energiepreises innerhalb weniger Monate ist für die meisten Menschen ein kleiner Schock. Aber ich habe dieses Wort mit Bedacht gewählt, denn was ich beleuchten möchte, ist die konkrete Möglichkeit, dass es in naher Zukunft zu Preissprüngen in Grössenordnungen kommt, gefolgt von einem Marktversagen, bei dem lebenswichtige Güter für kein Geld der Welt mehr zu haben sind.
Das heisst nicht, dass die betreffenden Güter nicht mehr existieren werden. Auch das Geld wird nicht aufhören zu existieren: Es wird wahrscheinlich mehr Geld im Umlauf sein als je zuvor. Das bedeutet auch nicht, dass die Waren selbst in ihrer Form oder Funktion irgendwie verändert werden. Was sich bis zur Unkenntlichkeit verändern wird, ist das Geld selbst. Statt eines allgemein anerkannten, unbegrenzt fungiblen Wertaufbewahrungs- und Tauschmittels wird es zu einem fragmentierten und konfliktgeladenem Konzept werden, das umständlich zu benutzen, riskant zu halten und zunehmend nutzlos ist.
Für Menschen, die ihr ganzes Leben lang darauf konditioniert wurden, Geld als das Mittel und das Mass aller Dinge zu betrachten und zu glauben, dass jede Sache ihren Preis haben muss (der von der unsichtbaren Hand des freien Marktes bestimmt wird), wird dies ein äusserst erschütternder, psychologisch verstörender Übergang sein – eine Götterdämmerung, speziell des Gottes Mammon. Das ist eine romantische Auslegung, die psychologisch vielleicht zutreffend ist, aber eine bodenständigere, technische Sichtweise ist die einer neuen Art von Inflation, der ich den Namen «strukturelle Hyperinflation» geben möchte. Sie weist viele Gemeinsamkeiten mit der guten alten herkömmlichen Inflation auf, an die sich inzwischen jeder gewöhnt haben sollte, aber sie hat auch einige zusätzliche Merkmale, die sie potenziell lebensbedrohlich machen – vor allem für liberale Ökonomen, Investmentbanker, Trader, Spekulanten, Reiche, Arme und – um niemanden auszuschliessen – alle dazwischen.
Das Thema der strukturellen Hyperinflation verdient eine Abhandlung in Buchlänge – einen gewichtigen Wälzer, der es mit dem Kapital von Karl Marx aufnehmen kann. Das kann ich hier nicht leisten, und so werde ich stattdessen die groben Umrisse dieser schönen neuen Welt skizzieren und einige unterhaltsame kleine Geschichten aus aktuellen Ereignissen liefern, um Ihnen ein besseres Gefühl dafür zu vermitteln.
Es war einmal (genauer gesagt in den USA in den 1950er Jahren), da wurde ein bestimmter Zustand theoretisch angenommen, der als «goldilocks economy» bezeichnet wurde, als Goldlöckchen-Wirtschaft – nicht zu heiss und nicht zu kalt. Die Banken verliehen Geld gegen Zinsen, dieses Geld wurde in produktive Tätigkeiten investiert, was zu einem Wirtschaftswachstum führte, und das Wirtschaftswachstum sorgte dafür, dass die künftigen Einkommen grösser waren als die gegenwärtigen, so dass diese Kredite im Laufe der Zeit relativ kleiner wurden und leichter zurückzuzahlen waren. Es gab immer einen gewissen Druck auf die Löhne – dafür sorgten die verhassten kommunistischen Gewerkschaften –, was eine Lohninflation verursachte, die wiederum dazu führte, dass mehr viel Geld in der Wirtschaft herumschwappte, als es Produkte gab, was zu einer Preisinflation führte. Ein gewisses Mass an Lohn- und Preisinflation – etwa 2 Prozent – wurde als unvermeidlich angesehen und sogar als «optimale Inflationsrate» bezeichnet. Erreicht wurde dies durch eine Feinabstimmung des Leitzinses, mit dem die Banken die Zinsen für Kredite und Einlagen festlegten. Es gab auch eine «optimale Arbeitslosenquote» (auch bekannt als «natürliche Arbeitslosenquote»), die nahezu für Vollbeschäftigung sorgte, den Arbeitnehmern aber immer noch genug Angst einjagte, um sie davon abzuhalten, höhere Löhne zu fordern.
Der vorhergehende Absatz ist wahrscheinlich der ödeste und langweiligste Absatz, den ich je in meinem Leben geschrieben habe. Man nennt die Wirtschaftswissenschaften nicht umsonst eine trostlose Wissenschaft; sie ist wirklich trostlos – nicht im Sinne von düster oder traurig oder schwermütig, sondern im Sinne von mittelmässig und schlampig – insgesamt ein Haufen Unsinn. Es gab nie eine «Goldilock»-Ökonomie; es gab nur einen Haufen skrupelloser Kapitalisten und ihre Sklaventreiber, die es eine Zeit lang für einen glücklichen Zufall hielten, die Arbeiterklasse gerade so viel zu bestechen zu können, dass sie nicht zu den Kommunisten überlief und von ihr an Laternenpfählen aufgehängt wurde.. Die kapitalistischen Sklaventreiber liessen es sogar zu, dass sich eine Zeit lang eine Mittelschicht entwickelte. Dann, in den 30 Jahren seit dem Ende der UdSSR und dem Sieg über das Gespenst des Kommunismus, wurde die Mittelschicht systematisch abgebaut, weil es keine politische Notwendigkeit mehr für sie gibt.
Das Denkmodell, das uns die Ökonomen glauben machen wollen, stellt die Wirtschaft als eine Art magische Blackbox dar, die mit Geld funktioniert. Der Geldfluss wird über einige wenige Knöpfe gesteuert, deren korrekte Betätigung Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation und Vollbeschäftigung bewirkt. Wenn das Wachstum stagniert oder die Inflation zu niedrig ist, wird sie durch Anreize in Form von niedrigeren Zinssätzen wieder angekurbelt. Ist das Wachstum gut, aber die Arbeitslosigkeit zu niedrig und die Inflation zu hoch, spricht man von einer Überhitzung der Wirtschaft, und die Zinssätze werden wieder angehoben. Wenn das nicht funktioniert, erscheint auf dem Display die Meldung «Policy Error!» und es ist an der Zeit, den Vorsitzenden der Federal Reserve durch eine neue Fleischpuppe zu ersetzen. Und wenn auch das nicht klappt – was dann?
Vielleicht ist es an der Zeit, sich eine neue Blackbox zu besorgen – denn die alte ist eindeutig nicht mehr zu gebrauchen.
Was, wenn das Wachstum anhaltend niedrig und die Arbeitslosigkeit anhaltend hoch ist, obwohl die Zinssätze seit vielen Jahren praktisch bei Null liegen, während die Inflation neue Rekordwerte erreicht? Und was, wenn auch nur der kleinste Schritt in Richtung einer Zinserhöhung zur Bekämpfung der Inflation dazu führt, dass die gesamte Wirtschaft in Ohnmacht fällt und die trägen Unternehmen die Eingänge zu den Konkursgerichten zu verstopfen beginnen? Nun, vielleicht ist es an der Zeit, sich eine neue Blackbox zu besorgen – denn die alte ist eindeutig nicht mehr zu gebrauchen. Westliche Mainstream-Ökonomen werden hier keine grosse Hilfe sein; alles, was sie tun, ist, sich über «Stagflation» zu beschweren. Aber es gibt keinen Konsens darüber, was dagegen zu tun ist, und ihr bester Rat scheint zu sein, nichts zu tun und darauf zu warten, dass sich die Situation mit der Zeit von selbst löst. Und wenn sie sich nicht von selbst löst, sondern immer schlimmer wird – was dann?
Dann wäre es vielleicht an der Zeit, dass die Ökonomen aufhören, mit ihren fehlerhaften Modellen zu spielen und sich richtige Jobs suchen. Diese erfordert natürlich eine gewisse Umschulung. Vor allem müssten sie einige neue Disziplinen studieren. Eine wichtige heisst «politische Ökonomie»: Sie analysiert, wie soziale Regeln die wirtschaftlichen Ergebnisse prägen. Sie ist den westlichen Wirtschaftsfachleuten ein Gräuel, weil ihr spezieller Kult von ihnen verlangt, sich an einen besonderen Glaubenssatz zu halten: dass eine liberale freie Marktwirtschaft auf der absoluten Grundlage des Privateigentums und des ungehinderten Einsatzes von privatem Kapital in einer grenzenlosen globalisierten Wirtschaft ohne nationale Interessen die einzig denkbare Alternative ist. Alles andere wird mit einer Vielzahl von abwertenden Begriffen belegt – sozialistisch, kommunistisch, undemokratisch, autoritär – und muss durch Sanktionen oder, wenn diese nicht greifen, durch Bombardierungen zerschlagen werden. Und wenn Wirtschaftssanktionen nicht funktionieren und eine Bombardierung selbstmörderisch wäre – wie im Falle Russlands oder Chinas –, was dann?
Alle Annehmlichkeiten der Zivilisation sind nur für reiche Leute und ein paar ihrer treuen Diener bestimmt; der Rest spielt keine Rolle.
Die Umschulung westlicher Ökonomen wird allerdings durch die Tatsache erschwert, dass die Beachtung der politischen Ökonomie sie zu bestimmten unbequemen Erkenntnissen zwingen würde. Die wichtigste davon ist, dass die von ihnen propagierten westlichen Werte – universelle Menschenrechte, Unantastbarkeit des Privateigentums, freier Kapitalverkehr und Demokratie – alles andere als universell sind; tatsächlich gelten sie nur für Clubmitglieder. Daher ist es völlig in Ordnung, zum Beispiel Wirtschaftssanktionen zu verhängen oder jeden zu bombardieren, der ihnen nicht gefällt. Die Hunderttausenden von toten oder vertriebenen Guatemalteken, Honduranern, Salvadorianern, Serben, Palästinensern, Irakern, Afghanen, Libyern, Syrern, Jemeniten und Ukrainern spielen überhaupt keine Rolle, weil sie keine Mitglieder des Clubs der liberalen Demokratien sind und ihr Leben keine Rolle spielt. Ebenso ist es völlig in Ordnung, grosse Teile der eigenen Bevölkerung zu zwingen, in bitterer Armut zu leben, während sie von einem überbordenden Polizeistaat streng kontrolliert und daran gehindert werden, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen – denn auch arme Menschen sind nicht wichtig. Alle Annehmlichkeiten der Zivilisation sind nur für reiche Leute und ein paar ihrer treuen Diener bestimmt; der Rest spielt keine Rolle – oder besser gesagt, er spielt nur eine Rolle als Ressource für die Nutzung des Privatkapitals.
Wenn man ein wenig tiefer gräbt, stellt sich heraus, dass die westliche Demokratie keineswegs eine Herrschaft des Volkes ist – das nennt man Populismus und gilt als sehr verwerflich –, sondern eine Regierung, die von den Interessen des Privatkapitals beherrscht wird. Der freie Markt wiederum ist überhaupt nicht frei, sondern in Wirklichkeit ein westliches Regierungssystem, das von derselben, von den Interessen des Privatkapitals beherrschten Regierung eingerichtet und verwaltet wird. Aus der Sicht der politischen Ökonomie geht es in der westlichen Zivilisation gar nicht um Wirtschaft, sondern um ein parasitäres System, das eine bestimmte globale Hackordnung durchsetzt. Souveränität wird sorgfältig rationiert, und Nationen, die versuchen, ihre Souveränität ohne Sondergenehmigung von oben auszuüben, werden sanktioniert und, wenn das nicht funktioniert, in die Schranken gebombt.
An der Spitze der globalen Hackordnung stehen die Anglos der Oberschicht mit Sitz in Washington DC. Ich nenne sie gerne die «English majors», weil es hauptsächlich ethnische Anglos mit einer Handvoll Juden sind und weil ihr Verständnis der physischen Realität in etwa dem entspricht, was man von einem Anglistik-Studenten nach vier Jahgren College erwartet. Direkt unter ihnen befinden sich die unterwürfigen, aber aristokratischen Westeuropäer; dann folgen ihre osteuropäischen Vasallen, wobei die Russen und die Weissrussen ausdrücklich ausgenommen sind.
Die Ukrainer wurden eine Zeit lang einbezogen, aber nur als Kanonenfutter für die Russen. Als Belohnung für ihren bedingungslosen Gehorsam nehmen die Japaner, die Südkoreaner und die Taiwanesen eine etwas privilegierte Stellung unter den erniedrigten Massen des Ostens ein. Ihre Aufgabe besteht darin, halbwegs qualifizierte Arbeit für westliche Multis zu verrichten. Am unteren Ende der Pyramide befinden sich die Lateinamerikaner und die Afrikaner. An dieser Hackordnung hat sich seit den Tagen von Rudyard Kiplings sprichwörtlichem imperialistischen Gedicht «White Man's Burden» von 1899 nicht viel geändert. Eine relativ junge Neuerung ist die Ersetzung des aristokratischen Standes durch den finanziellen Status. Elon Musk ist eine Art Erzherzog der Neuzeit.
Das einzige Vergehen, das in letzter Zeit zur massiven Vernichtung eines Landes geführt hat, waren die Weigerung, Öl für US-Dollar zu verkaufen.
Eine weitere Neuerung betraf die Methoden der Ausbeutung. Während in den letzten fünf Jahrhunderten des westlichen Kolonialismus die Mittel direkt physischer Natur waren – im Wesentlichen Invasion, Besetzung, Plünderung und Vergewaltigung –, gab es in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung hin zu einem raffinierteren Einsatz finanzieller und legalistischer Mittel zur Ausbeutung der geknechteten Massen, die sich nach Freiheit sehnten. Der Zugang zu internationalen Krediten und die Lizenzierung von geistigem Eigentum spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das einzige Vergehen, das in letzter Zeit zur massiven Vernichtung eines Landes geführt hat, waren die Weigerung, Öl für US-Dollar zu verkaufen: So wurden erst der Irak und dann Libyen mit «shock and awe» überzogen und zu gescheiterten Staaten gemacht.
Doch eine Wiederholung ist unwahrscheinlich geworden, denn die ganze Welt beeilt sich jetzt, sich von der Dollar-Dominanz zu befreien. Die Saudis verhandeln mit den Chinesen, um Öl in Yuan statt in Dollar an China zu verkaufen; Russland, China und Indien haben Währungs-Swaps eingerichtet, um den Dollar im bilateralen Handel zu umgehen; andere Nationen beobachten dies aufmerksam und wollen den US-Dollar ebenfalls umgehen. Irgendetwas sagt mir, dass die Saudis nicht bombardiert oder gar mit Sanktionen belegt werden; stattdessen werden die US-Beamten die Saudis weiterhin kleinlaut um noch mehr Öl betteln, für immer grössere Mengen an immer wertloseren US-Dollars. Und wenn das nicht funktioniert – was dann?
Was können die USA tun? Seit mehreren Jahrzehnten haben sich die USA auf ein schräges, zu ihren Gunsten geneigtes wirtschaftliches Spielfeld verlassen, und sind davon abhängig geworden. Die USA produzierten Schulden und kauften damit alles, was sie brauchten, wobei sie ein grosses und dauerhaftes Handelsdefizit mit dem Rest der Welt aufbauten. Vor kurzem haben die USA die Dollar-Guthaben Russlands eingefroren und damit den von Russland gehaltenen Teil ihrer Schulden nicht mehr bedient.
Das ist eine Warnung an den Rest der Welt: Das Geld, das mit der Lieferung von Produkten in die USA verdient wird, ist nicht sicher und kann jederzeit und aus irgendeinem Grund gestohlen werden. Der Rest der Welt reagiert darauf, indem der Handel weg vom US-Dollar umorganisiert wird. In der Vergangenheit konnten die USA ein solches Verhalten sanktionieren, indem sie ein oder zwei Flugzeugträger entsandten und von einem aufmüpfigen Land Unterwerfung verlangten. Aber jetzt können ein oder zwei russische Hyperschallraketen einen Flugzeugträger versenken, ohne dass irgendjemand eine Chance hat, herauszufinden, was passiert ist. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es kaum ein Hindernis für irgendjemanden in der Welt, die Lieferung von Waren an die USA im Austausch für neu ausgegebene US-Schulden einzustellen.
Die US-Raffinerien können ohne russisches Öl kein Flugbenzin oder Diesel herstellen.
Dies wäre eine Katastrophe für die USA, da sie von einer Vielzahl von Importen abhängig sind. Nehmen wir Russland als konkretes Beispiel: Russisches Öl macht zwar nur einen kleinen Prozentsatz der US-Rohstoffeinfuhren aus. Aber es ist ein sehr wichtiger Prozentsatz, da die US-Raffinerien ohne dieses Öl kein Flugbenzin oder Diesel herstellen können. Das meiste US-Öl stammt heute aus Fracking und ist leichtes Öl, das nur für die Herstellung von Benzin geeignet ist. Russisches Schweröl (entweder aus dem Ural oder von der Mazut 100-Qualität) ermöglicht es, dass Flugzeuge fliegen, Lastwagen rollen und Schiffe in den USA fahren können.
Bei angereichertem Uran ist die Lage sogar noch schlimmer: Russland besitzt und betreibt etwa die Hälfte aller Urananreicherungskapazitäten der Welt, während die USA keine besitzen. Ohne russische Exporte von angereichertem Uran müssen Kernkraftwerke in den USA (und in Frankreich, ein wichtiger Stromlieferant für seinen Nachbarn Deutschland) abgeschaltet werden, eine Katastrophe für die amerikanischen und europäischen Stromnetze. In Anbetracht der Tatsache, dass die USA russisches Staatsvermögen in Höhe von 300 Milliarden Dollar in US-Dollar beschlagnahmt haben – oder, nach russischer Lesart, dass die USA einen Teil ihrer von Russland gehaltenen Schulden nicht beglichen haben – was könnte Russland dazu bewegen, weiterhin Öl oder Uran gegen Dollar zu verkaufen?
Es gibt Anzeichen dafür, dass die sanktionsfreudigen Leute in Washington solche Tatsachen langsam einsehen. Zunächst verbot Biden die Einfuhr von russischem Öl und erklärte damit im Wesentlichen: «Ich wurde nicht entlassen, ich kündige!» Dann wurde eine hochrangige Mission nach Venezuela entsandt, um mit dem Usurpator Nicolas Maduro zu sprechen, und zwar unter völliger Umgehung des nicht gewählten Präsidenten Juan Guaidó, der in letzter Zeit von Washington und seinen Freunden so bevorzugt worden war. Ziel war es, den Tyrannen Maduro zu überreden, die Vergangenheit ruhen zu lassen und den USA etwas von seinem totalitären Öl zu liefern.
Die Vergangenheit ist vielfältig: die Beschlagnahmung des in London gelagerten venezolanischen Goldes, die illegale Übernahme der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft durch die USA, die kläglich gescheiterte Invasion durch US-Söldner usw. Was die hochrangige US-Delegation offenbar nicht wusste (da sie typischerweise schlecht informiert ist), ist, dass ein Grossteil der venezolanischen Ölindustrie derzeit eine russische Staatskonzession ist: Rosneft verkaufte seine venezolanischen Anteile im März 2020 an ein ungenanntes russisches Staatsunternehmen. Nachdem sie von Venezuela abgewiesen worden waren, versuchten die Amerikaner ihr Glück mit dem Iran, dem sie versprachen, das Atomabkommen mit dem Iran, aus dem sich Trump so ungestüm zurückgezogen hatte, wieder in Kraft zu setzen. Man sagte ihnen, sie sollten mit demjenigen sprechen, der den Prozess der Wiedereinführung vermittelt – und das wäre wiederum Russland. Als Nächstes rief Biden verzweifelt in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten an, die seine Antwort schuldig blieben.
Texas darf Gas exportieren, aber nicht nach Massachusetts, das Flüssiggas von anderswo einführen muss, indem es Europa und Asien überbietet.
Dieses Ausmass an extremer Ungeschicklichkeit und Hilflosigkeit ist kein Einzelfall im Umgang der USA mit Uran oder Öl. Werfen wir einen kurzen Blick auf das Erdgas. Einerseits gibt es fast zu viel davon, jetzt, da die meisten Fracking-Bohrstellen immer weniger Öl und immer mehr Gas liefern – eine Endphase des gesamten Fracking-Fiaskos. Andererseits gibt es einen extremen Mangel an Pipelines und anderer Infrastruktur, um das Gas dorthin zu bringen, wo es gebraucht wird. Es gibt zwar eine gewisse Anzahl von Erdgasverflüssigungsanlagen, aber einige von ihnen sind im Besitz ausländischer Interessen (insbesondere Indien), und diese Eigentümer möchten, dass das Gas zu ihnen und nicht zu den Verbrauchern in den USA gelangt.
Hinzu kommt der Jones Act von 1920, der es Schiffen, die nicht in den USA gebaut wurden, verbietet, zwischen US-Häfen zu transportieren. Es gibt aber keine in den USA gebauten Tanker für Flüssiggas. Texas darf also Gas exportieren, aber nicht nach Massachusetts, das Flüssiggas von anderswo einführen muss, indem es Europa und Asien überbietet. Die Aufhebung des Jones Act wäre eine grossartige Idee, aber sie ist bei den Finanzierern des bevorstehenden Wahlkampfs nicht annähernd so beliebt wie die Verhängung weiterer Sanktionen gegen Russland, so dass diese Idee vielleicht für immer warten muss.
Lassen Sie mich diese Situation anhand eines Abenteuerspiels erklären. Sie sind allein und wandern durch einen unendlich grossen sibirischen Wald. Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie können umherwandern, bis Sie vor Hunger und Erschöpfung sterben, oder Sie können mit dem russischen Bären sprechen. Um mit dem Bären zu sprechen, müssen Sie in die Bärenhöhle hinunterklettern, wo Sie der Bär ansieht und «Hallo!» sagt. Dann müssen Sie dem Bären etwas anbieten, das er haben möchte, im Tausch gegen etwas, das Sie haben möchten. Tipp: Wenn Sie dem Bären Dollar oder Euro anbieten, sogar frisch gedruckte, zerfetzt er Ihnen das Gesicht und das Spiel ist vorbei.
Die Frage ist: Was können Sie dem Bären noch anbieten, wenn Sie die USA oder die EU sind? Die kurze Antwort lautet: Nicht viel! Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir die Entwicklung des westlichen Imperialismus in den letzten fünf Jahrhunderten kurz Revue passieren lassen. An dieser Stelle verlassen wir den Bereich der politischen Ökonomie und betreten den Bereich der physischen Ökonomie – eine weitere Disziplin, die westliche Ökonomen abgrundtief hassen.
Überspringen wir die unzähligen Details, von denen viele in Jared Diamonds ausgezeichnetem Buch «Guns, Germs and Steel» nachzulesen sind und die sich wie folgt zusammenfassen lassen: «Viele Waffen aus Stahl und der berühmte westeuropäische Mangel an angemessener Hygiene (sie wuschen sich kaum!), der den Kontinent zum Brutkasten für Infektionskrankheiten machte, ermöglichten die Eroberung der Welt». Was die Imperien zurückbekamen, waren vor allem Rohstoffe verschiedenster Art: Gewürze, Erze, Farbstoffe, Getreide, Tabak, Zucker, Baumwolle und so weiter. Die Verarbeitung erfolgte im imperialen Zentrum, das als erstes fossile Brennstoffe entdeckte und nutzte. Grossbritannien war allen anderen in der Nutzung der Kraft der Kohle und des Dampfes um 20 Jahre voraus und hatte dadurch einen Vorsprung von fast zwei Jahrhunderten vor allen anderen.
Was kann ein alterndes, heruntergekommenes ehemaliges Imperium dem russischen Bären bieten?
Was sehen wir heute, ein paar Jahrhunderte später? Der grösste Teil der Produktion findet in den ehemaligen Kolonialgebieten statt, während die Funktionen des imperialen Zentrums virtualisiert wurden und inzwischen hauptsächlich aus Dienstleistungen bestehen, darunter Finanzdienstleistungen und viele Arten von digitalen Technologien. Was also kann ein alterndes, heruntergekommenes ehemaliges Imperium dem russischen Bären bieten, das ihn nicht dazu veranlasst, …?
Um konkrete Beispiele zu nennen: Microsoft, Adobe und Oracle haben unter anderem angekündigt, dass sie wegen der laufenden Niederschlagung der Nazis in der Ukraine keine Geschäfte mehr in Russland machen werden. Hätten Bären einen Gesichtsausdruck (den sie nicht haben, so dass es schwierig ist, zu erkennen, wann einer im Begriff ist, einem das Gesicht abzureissen), würde der russische Bär über diese Nachricht lächeln, denn all diese Software ist jetzt für ihn kostenlos: Microsoft und Adobe, die auf Desktops und Laptops laufen, sind einfach zu knacken (ich benutze sie seit Jahren und habe nie dafür bezahlt, weil das Herunterladen und Installieren einer geknackten russischen Version so viel einfacher war, geschweige denn billiger). Oracle und andere Unternehmensserver-Software läuft hinter vielen Firewalls und wird noch jahrelang laufen (Software nutzt sich nie ab), während die Russen ihren eigenen lokalen technischen Support dafür organisieren und sie schliesslich durch ihre eigenen Versionen ersetzen.
So viel zur Software. Aber was ist mit Hardware? Genau wie bei der Software verlieren Hardware-Unternehmen, die sich weigern, mit Russland Handel zu treiben, ihren Patentschutz, und Russland wird nun seine eigenen Ersatzteile für alle importierten Geräte bereitstellen. Es gibt jedoch Dinge, die Russland nicht selbst herstellen kann. Insbesondere beabsichtigen die USA und die EU, die Einfuhr modernster Hardware, wie z. B. Mikroprozessoren, durch Russland zu unterbinden. Erstens gibt es eine lange Liste von Ländern, die diese Produkte nur zu gern importieren und gegen eine geringe Gebühr nach Russland reexportieren würden. Zweitens werden moderne Mikroprozessoren in Taiwan aus Bauteilen hergestellt, die aus der ganzen Welt geliefert werden. Einige haben nur wenige Bezugsquellen. So stammt beispielsweise die Hälfte der Saphir-Wafer, der Grundplatten für Mikroprozessoren aus Russland, und die Hälfte des Neongases für die Laser in den Fotolithografieanlagen stammt aus der Ukraine,
Wie Sie sehen, ist die physische Ökonomie genauso interessant wie die politische Ökonomie. Aber was, so werden Sie sich fragen, hat das alles mit der geheimnisvollen Wissenschaft der westlichen Finanz-Ökonomie und insbesondere der strukturellen Hyperinflation zu tun? Mit den obigen Ausführungen können wir nun versuchen, diese Frage zu beantworten.
Milton Friedman sagte bekanntlich: «Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen, das nur durch einen schnelleren Anstieg der Geldmenge als der Produktion erzeugt werden kann». Da aber Geld selbst «immer und überall ein monetäres Phänomen ist» und da sowohl Geld- als auch Produktmengen sowohl abnehmen als auch zunehmen können, können wir dieses Zitat auf «Inflation ist, wenn es mehr Geld für weniger Produkt gibt» vereinfachen. Friedman war verdammt schlau, wie man sieht. Die meisten Ökonomen sind das.
Steigende Zinssätze werden viele überschuldete US-Unternehmen in Konkurs treiben, die die Produktion einstellen und ihre Mitarbeiter entlassen, was mehr Helikoptergeld erfordert, was die Inflation weiter anheizt.
Lassen Sie uns nun versuchen, eine wirkliche Erklärung für das aktuelle Geschehen zu finden. Die einfachste Erklärung ist die Inflation durch Helikoptergeld. Die Biden-Regierung hat die Wirtschaft grösstenteils heruntergefahren, weil eine gewisse angesagte Erkältung, die von Fauci und den Fledermäusen erfunden wurde, den Planeten verwüstete. Zur Kompensation begann Biden, links und rechts Geld zu verteilen. So jagte mehr Geld hinter weniger Produkten her, was die Preise in die Höhe trieb. Zurzeit experimentiert die Federal Reserve mit einer Anhebung der Zinssätze, um die Inflation zu kontrollieren. Dies wird dazu führen, dass viele überschuldete US-Unternehmen in Konkurs gehen, die Produktion einstellen und ihre Mitarbeiter entlassen, was mehr Helikoptergeld erfordert, was die Inflation weiter anheizt. Dann wird die Fed ausrufen: «Oh mein Gott, was haben wir getan!» und die Zinsen wieder auf Null senken. Das Schöne an diesen Massnahmen ist, dass man sie beliebig oft wiederholen kann.
Die zweite Art der Inflation ist schwieriger zu erklären, daher greife ich auf einen Trick zurück, der oft in Ökonomie-Kursen verwendet wird: eine mikroökonomische Anekdote zur Erklärung eines makroökonomischen Phänomens. Nehmen wir an, Sie besitzen ein Unternehmen, das Toilettenpapier herstellt und es in die USA liefert. Bei niedriger Inflation macht es für Sie keinen Sinn, Toilettenpapier zu horten und auf steigende Preise zu warten. Ihnen würden Einnahmen entgehen, und die Wettbewerber könnten diese Lücke nutzen und Ihnen Marktanteile wegschnappen. Bei hoher Inflation jedoch werden die Kosten für die Lagerung der unverkauften Produktion durch die Inflation mehr als kompensiert, so dass sie wertvoller als Geld wird. Es macht also durchaus Sinn, ein Schiff voller Toilettenpapier ein paar Wochen vor Anker liegen zu lassen, anstatt es sofort zu entladen. Stellen Sie sich nun vor, alle würden dasselbe tun. Glauben Sie, dass dies eine Erklärung dafür sein könnte, warum all diese Frachtschiffe endlos vor Los Angeles vor Anker lagen? Auch hier gilt wieder: waschen, spülen, wiederholen.
Die dritte Art der Inflation hat mit dem Ersatz von Importen zu tun. Nehmen wir an, dass Sie durch Sanktionen verschiedene Länder gezwungen haben, ihre Importe zu ersetzen. Anstatt Produkte von Ihnen zu kaufen, stellen sie diese Produkte dann selbst her – was auch immer das sein mag. Die Herstellung erfordert Energie. Wenn es sich um Länder handelt, die Energie exportieren, dann werden sie diese Energie im eigenen Land verbrauchen, anstatt sie zu exportieren. Die Energiemenge, die zur Verfügung steht, ist aber – geologisch bedingt – begrenzt, und so wird immer mehr Geld auf dem Exportmarkt immer weniger Energie nachjagen, was zu struktureller Inflation führt.
Mit der Zeit kann die strukturelle Inflation in eine strukturelle Hyperinflation übergehen: ein Zustand, in dem sich die Marktbedingungen einem Punkt in der Zukunft nähern, bei der man mit einer unendlichen Geldmenge genau null Produkte kaufen kann. Dieser Zustand ist nicht direkt beobachtbar: Es wird niemand mehr da sein, um ihn zu beobachten. Denn bis dahin haben die wenigen überlebenden intelligenten Ökonomen einen Weg gefunden, sich auf eine Weise zu ernähren, die überhaupt kein Geld erfordert, sondern direkt Erde, Wasser, Sonnenlicht und einen Sack Kartoffeln einsetzt.
von:
Über
Dmitry Orlov
Dmitry Orlov wurde 1962 in der Sowjetunion in eine Familie von dissidenten Wissenschaftlern geboren, die 1976 in die USA auswanderte. Studium in den USA (Ingenieurwissenschaften und Linguistik) und Arbeit in mehrere Branchen, u.a. am CERN in Genf. Seit einigen Jahren lebt Orlov als Autor mit seiner Familie in seiner Heimatstadt St. Petersburg. Seine Texte erscheinen auf boosty (kostenpflichtig, freie Beitragswahl) auf cluborlov.
Auf deutsch ist von Dmitry Orlov erschienen:
Die Lehre vom Kollaps – die fünf Stufen des Zusammenbruchs und wie wir sie überleben. edition Zeitpunkt, 2020. 144 Seiten, Fr. 15.00.-/€ 15.00.-. ISBN: 978-3-907263-01-3
Von Dmitry Orlov sind auf englisch erschienen:
- The Meat Generation (2020)
- Collapse and the Good Life (2018)
- Collapse Chronicles (Essays, 2018)
- Everything is Going According to Plan (2017)
- Shrinking the Technosphere – Getting a Grip on the Technologies, that Limit our Autonomy, Self-Sufficiency and Freedom
- Emergency Eyewash (Essays, 2015)
- Societies that Collapse (Essays, 2014)
- Absolutely Positive (Essays, 2012)
- The Five Stages of Collapse – a Survivors Toolkit (2012)
- Hold your Applause
- Reinventing Collapse: The Soviet Experience and American Prospects
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