Täter und Opfer im Tierreich
Wenn ein Hund einer Katze nachrennt, teilt sich die Menschheit, wie so oft, in zwei Gruppen. Die einen bedauern die arme Katze und empören sich über den bösen Hund - die andern finden die Hetzjagd lustig und sind gespannt, wie sie ausgeht. Hinter der Meinungsverschiedenheit, die nicht von Menschen – dies sei betont –, sondern von Tieren handelt, stehen zwei Weltanschauungen. Welche der beiden hat recht? Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Spontan und gedankenlos würde man denken: Da die Katze die Kleinere und die Verfolgte ist, müsste ihr unser Mitleid gelten. Zweifellos ist der Hund der Aggressor, der aus purem Spass an der Lust, ohne existenzielle Not eine schuldlose Kreatur gnadenlos vor sich her treibt, um sie – würde er sie erwischen – bestialisch zu packen und zu zerfleischen.
Nur das Wissen um die Wendigkeit einer Katze beruhigt uns. Das kleine, bewegliche Tier findet glücklicherweise stets im letzten Moment eine Lücke im Zaun, einen Baum oder mindestens einen Busch, um sich daselbst zu verstecken. Worauf der Hund enttäuscht stehenbleibt und sich – sein Opfer vergessend – wieder verzieht.
Schaut man aber genauer hin, dann erhellt sich uns, dass die Sache nicht so ist, wie sie scheint. Am Anfang steht nicht etwa der Hund, der ohne Grund, aus einer Laune seines Instinkts heraus jagen und töten will. Am Anfang steht ein durchtriebenes schwarzes Kätzchen, whiskasverwöhnt in der Wiese lauernd und seinerseits im Begriff, ein anderes Geschöpf Gottes, nämlich ein armes Mäuschen beim Verlassen des sicheren Loches zu fassen, mit spitzen Katzenzähnchen zu liquidieren – und liegenzulassen. Weil das Mordwerk getan ist.
Da sieht das kleine Raubtier den Hund, der etwas oberhalb auf dem Wanderweg, nichts Böses ahnend, mit seinem Menschen vorbei spaziert. Erschrocken, doch in Sekundenschnelle wieder gefasst, fixiert die Miezekatze den Feind mit ihrem Blick. Ihre Katzenaugen sind aufgerissen, aber sie drücken nicht Furcht aus. Die Augen hypnotisieren den Hund. Sphinxhaft verwirren sie seine Sinne.
In diesem ersten Moment ist die Katze die Stärkere. Der Hund steht im Bann ihres Blicks, und der Himmel, der sich über der Wiese wölbt, hält den Atem an.
Doch dann, was geschieht? Das Selbstbewusstsein der Katze, so scheint es, bricht ein. Offensichtliche Angst ergreift sie, aus Angst wird Panik, aus Panik Reflex – die Katze flüchtet.
Erst jetzt erwacht der Hund aus seiner Hypnose. Das provozierende kleine Ungeheuer erregt seine niedersten Triebe. Ob er will oder nicht, er muss den schwarzen Teufel verfolgen, obwohl er weiss – aus Erfahrung weiss –, dass die Katze entkommen wird. Das weiss auch die Flüchtende selbst. Sie bewegt sich in grossen, gazellenartigen Sprüngen davon, als ob es ihr Leben gälte. Am Ende rettet sie sich, der Hund steht dumm in der Wiese, und die Menschen, sofern es sich nicht um die Katzenbesitzer handelt, haben sich amüsiert.
Versuchen wir nun das Wesen der Katze – das ein Hund nie verstehen wird – etwas mehr zu ergründen. Halten wir fest: Die Katze flüchtet. Würde sie bleiben, an Ort und Stelle verharren, die Augen starr auf den Hund gerichtet – er würde sich ihr in den meisten Fällen nicht nähern. Selbst dann nicht, wenn er den Bann ihres Blickes durchbrechen könnte. Denn der Hund weiss, wie sich die Katze verteidigen würde.
Wenige gewalttätige Ausnahmen bezeugen die Regel. Und die Regel ist, dass ein Hund dem Krallenhieb einer Katze nichts entgegenzusetzen hat. Noch bevor seine Zähne zubeissen könnten, würde er bloss noch jammern und heulen und aus der Schnauze bluten. Und noch bevor die Katze die Krallen zeigt, würde sie ihren Buckel machen und so wild und unheimlich fauchen, dass jeder normal gebildete Hund sich besinnt, wer der Klügere ist – und den Rückzug antritt.
Die Katze müsste also nicht flüchten. Warum tut sie es trotzdem? Um das arme Kätzchen zu sein, das von den grossen bösen Hunden gejagt wird. Wer möchte da nicht Partei ergreifen?
Podiumsgespräch in der IG Halle im Alten Zeughaus Rapperswil im Rahmen der Ausstellung «Ars Termini» zum Thema Grenzüberschreitung.
«Ob es um weltanschauliche Grenzen, um Grenzen in der Kunst oder um ein Nahtoderlebnis geht – stets eröffnet uns das Überschreiten von Grenzen neue Dimensionen.»
Mit Nicolas Lindt, Andrea «Yoki» Pfeifer und Art Beeing XX.
Sonntag 27. Oktober 11:30 Uhr. Eintritt 25 CHF.
Alle weiteren Infos www.ighalle.ch
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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Kommentare
Im Auge des Betrachters
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juerg.wyss
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