Und nun?
Das unbrauchbare Alte klebt wie Leim. Das visionäre Neue ist noch nicht da – und der Gang über die Brücke kein lauschiger Spaziergang.
Es ist Samstag. Und es regnet. Die Welt ist ganz in Grau gehüllt. Normalerweise würde ich mich an einem solchen Tag mit inspirierender Lektüre in der gut geheizten Stube verkriechen. Nicht aber heute. Da steht ein Spaziergang der anderen Art auf dem Programm. Trotz des garstigen Wetters. Einer, den ich so in meinem Leben noch nie gemacht habe, und einer, der alles andere als behaglich wird. Ein Spaziergang mit Menschen, die gegen die Massnahmen sind, die uns wegen des Lockdowns auferlegt wurden. Demos sind eigentlich nicht meine Sache. Ein Leben im Lockdown aber genausowenig.
Ausgangspunkt ist das Fraumünster, eine der reformierten Altstadtkirchen in Zürich. Auf der Brücke über der Limmat versammeln sich die Menschen. Die Polizei mit Kastenwagen in Position, der uniformierte Trupp bereit. Aus den Lautsprechern dröhnt die metallene Stimme, dass die Menschen zu wenig Abstand halten würden.
Es geht los, auf den Rundgang durchs Niederdorf. Keine drei Meter später ist es aber schon aus mit Spazieren. Die Menschen werden vorne und hinten eingekesselt, und nun stehe ich mit Herzklopfen mitten auf der Brücke. Was habe ich denn verbrochen? Ich habe immer genügend Abstand gehalten und brauche kein schlechtes Gewissen zu haben wegen ein paar Schritte im Regen von Zürich. Mulmig ists mir trotzdem.
Die bewaffneten und hochgestiefelten Männer in Blau riegeln die Brücke ab, was prompt zu Reaktionen führt. Ein Mann beginnt lauthals zu schreien. «Lasst mich raaaaus!» Ja, super. Agression ist jetzt genau das, was man hier brauchen kann, schiesst mir durch den Kopf. Obwohl mir die breitbeinig stehenden Polizisten mit Helmen und runden Kampfschildern auch Angst einjagen. Mir wirds zu brenzlig und ich frage mich, wie ich aus dieser Situation wieder rauskomme. Ich gehe direkt auf einen der jungen Ordnungshüter zu, sage ihm mit gedämpfter Stimme, dass ich hier raus will, und er lässt mich erstaunlicherweise passieren. Ich flutsche zwischen den stämmigen, stramm aufgerichteten Polizisten durch. Bin ich jetzt ein Verräter? Eine feige Nuss?
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Auch aufgrund der Rauferei mit dem schreienden Mann, der auf den Boden gerdrückt und in Handschellen gelegt wird. Spannung pur. Die Handys werden gezückt, die Szenen aufgezeichnet. Der Mann wird im Kastenwagen abgeführt.
Als wäre die Welt in bester Ordnung, blubbert die Limmat friedlich vor sich hin. Ich stehe am Strassenrand und mir ist zum Heulen zumute. Bedrückt setze ich den Spaziergang fort und plötzlich bemerke ich, dass dies Andere auch tun. Ich gehe ins Gespräch. Nette Menschen, superinformiert, zum Teil bis ins letzte Detail. Menschen, denen die Tränen über die Wangen laufen, wenn sie von ihrer Situation erzählen. GeschäftsführerInnen von KMUs, die nicht mehr weiter wissen, in finazielle Not geraten sind. Ins Homeoffice Verbannte, die auch wenn sie mal wieder ins Geschäft gehen, niemnaden antreffen, weil die TeamkollegInnen ja ebenfalls zu Hause arbeiten, sich sehr isoliert fühlen. Alles gestandene Leute wie du und ich, die sich einfach wieder mal mit Ähnlichdenkenden live austauschen wollen. Kann man so was verübeln?
Im Zug nach Hause sinke ich ermattet in den Sitz. Und nun? Was hat das nun gebracht? Habe ich etwas bewegen können? Hat das nun etwas verändert? Das was ist, scheint ja nicht mehr wirklich zu funktionieren, die Wirtschaft, die Bildung, das Gesundheitswesen, unsere Informationskultur sowie der Umgang mit dem entscheidensten Faktor in den gesamten Geschehnissen: der Mensch. Er, der die Veränderung herbeiführen könnte. Aber die Lage scheint derzeit so wie in einer ausgeleierten Beziehung zu sein, in der der Unzufriedene mantramässig wiederholt, was ihm alles nicht mehr passt. Er könnte dies jedoch genauso gut einem Baum im Wald erzählen. Weil sich letztlich nichts bewegt und er letzlich erkennen muss, dass er er selbst ist, der die Veränderung anstossen muss.
Wir brauchen dringend neue Perspektiven. Denn unsere Regierung, hat sie eine konstruktive Vision? Wenn ja, dann wäre sie längst da oder zumindest im Ansatz spürbar. Verbote sind einfacher als ein phantasievoller Zukunfsentwurf, der aus dieser traumatischen Krise herausführen würde.
Meine Vision ist ein Leben in echter Freiheit, reifer Selbstbestimmtheit, ohne Gewalt, in Brüderlichkeit, in Meinungsfreiheit, in Vielfalt, in Gemeinschaft, mit Möglichkeit zur Begegnung, in menschlicher Würde, in friedlichem Miteinander, in Ehrlichkeit, im Füreinanderdasein, in förderlicher Kollaboration mit Anderen, mit stets existierenden Entwicklungsmöglichkeiten. Eine wirklich menschliche, lebenswerte, neue Kultur. Ob das phantasievoll ist, weiss ich nicht. Klar aber scheint mir, dass «man niemals Veränderung schafft, indem man das Bestehende bekämpft», Worte des amerikanischen Architekten, Philosophen und Visionärs Richard Buckminster. Und recht hat er wohl auch, wenn er sagt: «Um etwas zu verändern, baut man neue Modelle, die das Alte überflüssig machen.»
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Kommentare
Die Angst, die Gedanken und der Weg raus
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