Widerstand ohne Gegnerschaft: Ist das möglich? / Teil 2

In Teil 2 der Antworten von Lesern und Leserinnen zu unserer Frage des nächsten Zeitpunkt-Titelthemas gibt es einen längeren Beitrag mit einer Antwort der freien Journalistin Angela Mahr aus Berlin.

Angela Mahr auf der grossen Freiheitsdemonstration am 1. August 2020

WiderstandIm Rückblick lässt sich sagen, dass die Demokratiebewegung der vergangenen vier Jahre eine sehr friedliche Bewegung geblieben ist. Ich habe zahlreiche Demos in dieser Zeit gefilmt, den Tag der Freiheit am 1. August 2020 in Berlin habe ich acht Stunden lang mitverfolgt und filmisch dokumentiert. Die Darstellung der Bewegung seitens der grossen Medienhäuser war schlichtweg falsch. Erreicht hat die Bewegung viel, denn der Druck Richtung Impfpflicht und QR-Code-basierte Zugangsbeschränkungen war gross.

Wie funktioniert friedlicher und effektiver Widerstand?

Wann fängt Widerstand an? Wenn wir uns die Frage stellen, ob Widerstand ohne Gegenkraft möglich ist, müssen wir zunächst mitbekommen und feststellen können, wann unser Widerstand beginnt. Dann wird uns vielleicht bewusst, dass wir unsere Gegenkraft schon einsetzen, bevor unser Widerstand beginnt.

Ein einfaches Bespiel hierfür ist unsere Anspannung: Wir verspannen uns, wenn etwa unsere Nachfrage nach den statistischen Grundlagen für die Pandemie-Politik in der Teambesprechung – oder noch inakzeptabler – in der Redaktionssitzung eines Leitmediums nur auf stumme Mauern und vorwurfsvolle Blicke stösst.

Voilà: Da ist sie, die Gegenkraft: Angestaut, im Körper spürbar als Adrenalinanstieg und bereit – für den Streit. Die Gegenkraft in uns ist schon da, bevor unser Widerstand beginnt und sichtbar wird. Wenn wir sie blockieren, tut sie uns nicht gut. Sie wird zur angestauten Aggression. Vielerorts beobachte ich, dass Menschen ihre angestaute Aggression unter den Teppich kehren. Sie erscheint ihnen unangebracht, unreif oder nicht spirituell. Sie passt einfach nicht zum Selbstbild. Sie wird gefürchtet, weil sie, je länger sie sich anstaut, anfühlen kann wie die Büchse der Pandora:

Wenn ich das nicht mehr deckle, kann ich in dieser Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Oder schlimmer noch: Denn ich müsste meiner Wut freien Lauf lassen. Und dann bin ich nicht besser als die Gegenseite, die mich gerade wütend macht. Im Falle von ungefilterter Wut bestünde tatsächlich die Gefahr, dass Aggression zu mehr Aggression führt oder Unterdrückung zu Gewalt – der Beginn einer Gewaltspirale.

Bevor wir uns also vornehmen oder versuchen, Widerstand ohne Gegenkraft zu leisten – denn ja, das ist möglich – hilft es uns enorm, uns unserer Gegenkraft, der gesamten Spannung und vielleicht auch angestauten Aggression in uns so vollständig wie möglich bewusst zu werden. Das erfordert Mut. Es verlangt von uns, uns unsere eigene Verletzlichkeit in dieser Welt einzugestehen. Es verlangt von uns, unseren Ängsten buchstäblich ins Gesicht zu sehen. Das bedeutet auch, unsere Schattenanteile anzunehmen und gefühlsmässig zu klären, bevor wir sie in Heilung bringen. Klären heisst, ein verschwommenes Bild wird klar.

Wovor haben wir wirklich Angst? Welche Macht haben Kollegen, Chefs, Nachbarn, Banken, Universitäten, Justiz und der Staatsapparat uns gegenüber? Ihr Handlungsspielraum uns gegenüber ist vorhanden – und beachtlich! – aber ihre Macht uns gegenüber ist letztlich relativ. Vor allen Dingen repräsentieren oder ersetzen sie nicht unser Gewissen. Ihre Macht ist relativ abhängig davon, was wir mitmachen und was nicht. Nutzen wir die Freiheit, die wir haben?

Solange wir die Gegenkraft ausschliesslich gegen etwas Altes einsetzen, bleiben wir in einer kämpferischen und energieraubenden Haltung gefangen. Es gibt notwendigen und konstruktiven Streit, um etwa auf das anfängliche Bespiel einer Redaktionssitzung zurückzukommen. Im richtigen Moment kann es einmal nötig sein, die «Bombe platzen» zu lassen, verbal und gewaltfrei gemeint. Doch dann gilt es, darüber hinaus zu gehen, und das gelingt durch die Verbindung mit unserer Herzens- und unserer Schaffenskraft. Wenn wir uns unsere Angst, unsere innere Spannung und unsere Gegenkraft bewusst gemacht haben, können wir sie ins Positive wenden.

Aber auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.

Wer sich nach dem Verlassen alter Strukturen bereits für neue Lösungen engagiert, weiss, dass der notwendige Widerstand sich damit nicht in Luft auflöst. Zu viele alte verkrustete Werte unserer Gesellschaft müssen mit Liebe und Ausdauer immer wieder durchbrochen werden, vom Anhaften an Geld und Ansehen über nervenaufreibende Genehmigungsverfahren bis hin zur Verwechslung von Liebe und Partnerschaft mit Loyalität, Aussendarstellung und wirtschaftlichem Erfolg. An so vielen Ecken und Enden ist unsere Gesellschaft ihre Werte betreffend eingeschlafen, dass es Kraft und Ausdauer bedarf, um etwas Demokratisches, Friedliches und Lebensbejahendes entgegenzusetzen.

Aber auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen. Deshalb brauchen wir die Gegenkraft in uns: Während der Lockdowns sind wir vielleicht gesund und ungeimpft in den Wald gelaufen anstatt ins Sportstudio und haben dort Steine gehoben statt Gewichte, um selbst im Gleichgewicht zu bleiben. Das war dann erstmal auch die beste Lösung. Sobald wir anfangen, aus den Steinen etwas Neues zu bauen, setzen wir unsere Gegenkraft richtig ein.

Bis hierhin beziehen sich meine Ausführungen klar auf die Freiheiten, welche wir etwa in Deutschland tatsächlich haben, denn es gilt, diese unbedingt zu nutzen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es einen grösseren Blickwinkel bedarf, sobald unsere Menschenwürde nachhaltig angegriffen oder gar unser Leben bedroht wird, wie im Falle von politischer Verfolgung und politischer Gefangenschaft.

Der Unternehmer Michael Ballweg hat sich seit 2020 friedlich für die Organisation der Demonstrationen für die Wahrung unserer Grundrechte eingesetzt und sass zu Unrecht im Gefängnis. (Die Begründung, er habe seine Steuererklärung während seiner Untersuchungshaft nicht abgegeben, in einer Zeit, in welcher er keinen Zugriff auf seine Unterlagen hatte, ist ein kafkaesker Vorwand, der für sich spricht). Er berichtet, die Zeit für intensive Sammlung, Innenschau und Meditation genutzt zu haben.

Nelson Mandela engagierte sich für einen friedlichen Wandel weg von der Apartheidpolitik in Südafrika und musste bis 1990 27 Jahre in Haft verbringen. Er bewahrte sich seinen Lebensmut, setzte auf Vergebung und Versöhnung und wurde 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt. Er heiratete mit 80 Jahren die mosambikanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Graça Machel.

Der Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange verbrachte viele Jahre in Einzelhaft.

Der tansanische Präsident John Pombe Joseph Magufuli sagte in seiner Rede bei Amtsantritt 2015:

Meine Aufgabe ist es, sicher zu stellen, dass die Tansanier weitergebracht werden. Von einem problembelasteten Ort werden sie einen Ort voller Glück erreichen. Dies wird mein Opfer sein, das ich für die Tansanier erbringe. (...) Es zu verstehen, wird schwierig sein und es wird Zeit brauchen, aber später werden die Menschen sich erinnern.

Re-Upload: Tansania. Magufuli nach seiner ersten Wahl 2015 deutsch. Angela Mahr, Odysee.com, 1.6.2021.

Als die Corona-Testungen weltweit hochgefahren wurden, liess Magufuli Papayas und Ziegen testen, welche teils positive Ergebnisse aufwiesen. So machte der Präsident das Versagen des PCR-Tests weltweit bekannt. Tansania widersetzte sich in einigen Punkten der Corona-Agenda. Magufuli geriet unter Druck und verstarb plötzlich und unerwartet.

Wir sind spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen. Nicht umgekehrt.

Sind wir selbst nun aber, jene Entscheidungen betreffend, die es zu treffen gilt, wirklich an einem hier vergleichbaren Punkt?

Falls jemand, der das hier liest, zustimmt, so wird er oder sie sich zugleich darüber im Klaren sein, dass wir spirituelle Wesen sind, die eine menschliche Erfahrung machen, nicht umgekehrt. Was diese Erfahrung von uns verlangt, wissen nur wir selbst, tief im Herzen.

Und falls nicht, dann gilt es, die Freiheit wirklich zu nutzen, die wir haben. Die Gegenkraft in uns ist jene Kraft, die uns kreativ werden lässt. Sie braucht nur den richtigen Kanal in uns dazu: Dieser Kanal ist unsere Freude am Wandel und auf das Neue, unser Mut und unsere Liebe zum Leben.

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