«Wie eine Stimme aus dem Jenseits» – Überleben in Gaza
Was würden Sie tun, wenn Sie Ihr Haus verlieren, wenn Ihr Heimatort bombardiert wird, wenn Sie nichts mehr haben als ein wenig Geld und ihre Familie? M. aus Gaza kann davon berichten. Der 62-Jährige lebt mit seiner Familie im Zelt, bekommt einmal am Tag essen und Medikamente von der «terroristischen» UNRWA. Er hofft – ausgerechnet – auf Trump.
Der Name auf dem Handy-Display war wie eine Stimme aus dem Jenseits. Der israelische Journalist Gideon Levy schreibt in der Zeitschrift Haaretz: «Ich hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Das ganze Jahr über habe ich immer wieder versucht, ihn anzurufen.» Inzwischen war er überzeugt, dass der Freund einer der inzwischen 43 000 Toten in Gaza ist.
Doch M. lebt – zusammen mit anderen Familienmitgliedern in Zelten im Vertriebenenlager von Muwasi. «Das ist die beste Nachricht, die ich in letzter Zeit gehört habe», schreibt Levy. Inzwischen sprach er einige Male mit M. und erfuhr so vom Alltag des Überlebens im nördlichen Gazastreifen, dem «Gebiet der gross angelegten ethnischen Säuberung, die jetzt im Gange ist».
Vor 13 Monate , am 17. Oktober letzten Jahres, floh M. aus seiner Heimat Beit Lahia. Als er ging, nahm er seine gesamten Ersparnisse mit – 14 000 Schekel (etwa 3 750 Dollar) – von denen er und seine Familie seither irgendwie leben. Und da er ausschliesslich mit dem Überleben beschäftigt ist, interessiere ihn das Schicksal seines Hauses in Beit Lahia nicht mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass das Gebäude noch steht, denn die ganze Region wurde dem Erdbeben gleichgemacht.
Auch sein Taxi wurde bombardiert. Der gelbe Mercedes-Siebensitzer hatte mehr als 2 Millionen Kilometer zurückgelegt – einen Teil davon in den Jahren des Mangels mit gebrauchtem Speiseöl, das einen unerträglichen Geruch verbreitete. Das Auto war seine Lebensgrundlage. Als die Einreise in den Gaza noch möglich war, fuhr er damit israelische und ausländische Korrespondenten, auch Gideon Levy. Denn M. spricht perfekt hebräisch, das war ein echter Pluspunkt für ihn. In seinem früheren Leben arbeitete er in Tel Aviv in einer Metzgerei.
Der heute 62-Jährige erlitt vor drei Jahren einen Schlaganfall. Seitdem ist er körperlich sehr beeinträchtigt. Seine Medikamente bekommt er von der als terroristisch eingestuften und von Israel verbotenenen Organisation UNRWA. Ohne sie wäre er tot.
Nachdem er seine Heimat verlassen hatte, fand er ein halbes Jahr lang in einem Zelt in Rafah Unterschlupf. Doch seit sieben Monaten schlägt er sein Zelt im Muwasi-Lager auf und schläft auf einer dünnen Matratze im Sand. Der grösste Teil seiner Grossfamilie lebt in Zelten in der Nähe; nur eine Tochter blieb in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen, zurück. M. berichtet von seinem Zufluchtsort in der humanitären Zone von Muwasi:
«Es hat angefangen, nachts kalt zu werden. Und auch Schüsse, Explosionen, Artillerie – fragen Sie nicht – den ganzen Tag und die ganze Nacht. Was soll ich Ihnen sagen, das ist die Situation hier. Wir sind hier – meine Tochter mit ihrem Mann, die zweite Tochter mit drei Kindern und dem Mann, und meine Schwester mit ihren Kindern aus Rafah; auch meine Nichte und ihre Mutter und mein ältestes Kind mit fünf Kindern und mein geschiedener Neffe, und meine Nichte, die drei Jungen und eine Tochter hat. Jeder hat ein kleines Zelt. Wir schlafen auf dem Sand, und wir haben eine Toilette gebaut. Mein Sohn hat sie aus ineinander greifenden Steinen gebaut, und wir haben eine Grube gegraben und einen Behälter hineingestellt, in den die Scheisse kommt. Wir waschen uns alle 10 Tage oder einmal in der Woche. So läuft das ab.
Die Kinder gehen jeden Tag und füllen Kanister mit Wasser, wie ein Brunnen. Und wir haben einen grossen Behälter. Wissen Sie, wie viele Streitereien es in der Schlange für Wasser gibt? Die Leute stürzen sich aufeinander und sagen: 'Ich war zuerst hier' und 'Ich war um 3 Uhr morgens hier'. Jeden Tag gibt es Streit.
Das Gleiche gilt für das Essen. Jeder nimmt einen Topf und geht zu der Stelle, an der sie das Essen ausgeben, und manchmal kommen sie mit leeren Händen zurück. Der grosse Topf ist leer. Das war's. Einmal, zweimal in der Woche schafft man es, seinen Topf zu füllen, an den anderen Tagen kommt man leer zurück. Ich schicke jeden Tag meine Enkelkinder. Gestern haben sie nichts mitgebracht. Wir hatten eine Tüte Makkaroni im Zelt, also hat meine Frau gekocht.
Früher haben wir über einem Feuer gekocht, wir haben Holz und Papier gesammelt – aber bis wir mit dem eigentlichen Kochen angefangen haben, ist meine Frau durchgedreht. Also habe ich einen kleinen Gaskanister gekauft, fünf Kilo. Ich suchte, bis ich einen fand. Einen kleinen Kanister, den ich für 400 Schekel [derzeit 107 Dollar] gekauft habe, und alle 50 Tage fülle ich ihn nach.
Ich habe seit über einem Jahr kein Fleisch mehr gegessen. Nur einmal Huhn, vor etwa zwei Monaten. Molkereiprodukte gibt es überhaupt nicht. Ein Kilo Zitronen kostet 40 Schekel, Tomaten kosteten 50 Schekel pro Kilo, jetzt sind es 35. Zwiebeln kosteten 70 Schekel, jetzt sind sie auf 25 Schekel gefallen. Gurken kosteten 22, jetzt 15. Obst gibt es überhaupt mehr. Hey, sind wir in Amerika? Es gibt auch kaum noch Mehl. Ein grosser Sack kostet 350 Schekel und ist nicht zu bekommen.
In der Nähe von Neve Dekalim [Ort einer ehemaligen israelischen Siedlung] gibt es einen Markt, auf dem man alles kaufen kann. Die Leute gehen zu Fuss oder mit Karren und Eseln... und kommen manchmal mit nichts zurück, wegen der Preise. Und es gibt einen Markt in Deir al-Balah. Und es gibt Pita-Bäckereien, aber es gibt Streit, Geschrei und Schläge. Am Ende schafft man es, ein Paket für 4 Schekel zu bekommen, und dann verkauft man es ausserhalb der Schlange für 20 Schekel, um ein bisschen Geld zu verdienen. Der Gazastreifen hat sich in ein Chaos verwandelt.
Es gibt Leute, die für die Palästinensische Autonomiebehörde oder für die Hamas oder für das UNRWA arbeiten und ein Gehalt bekommen, und es gibt viele Arbeitslose wie mich. Das Restaurant verteilt das Essen kostenlos. Zweimal in der Woche gibt es Majadara, zweimal in der Woche gelbe Linsen und zweimal in der Woche Reis – alles ohne Fleisch.
In einer Stunde gehe ich ins Zelt zum Schlafen. Gegen 9 Uhr. Um 11 Uhr wache ich auf und kann bis zum Morgen nicht wieder einschlafen. Über dem Zelt ist ein schrecklicher Lärm. Zuerst die Drohne. Dann verschwindet die Drohne, und das Schiessen beginnt. Die Armee schiesst auf die Fischer auf dem Meer. Manchmal gibt es nahe Explosionen, vielleicht ein gesuchter Mann.
Morgens steht man auf und holt sich eine Tasse Tee mit Duga, das ist wie Zaatar, und wärmt sich ein Fladenbrot auf, wenn es eins auf dem Gas gibt. Das ist das Frühstück. Mittags das Essen aus dem Restaurant, abends esse ich nichts.
Heute habe ich um 13.30 Uhr Makkaroni gegessen, einen kleinen Teller, und ich sagte zu meiner Frau: 'Halas,' genug. Die Kinder essen das Gleiche. Niemand wird verwöhnt. Ich war hart zu ihnen. Keine Verwöhnung. Wir sind nicht zu Hause und hier wird niemand verwöhnt. Wem das Essen nicht schmeckt, der kann gehen. Ich war von Anfang an sehr streng mit ihnen. Wenn du nicht isst, wirst du sterben.
In Rafah war es noch schwieriger. Ich bun den ganzen Tag herumgelaufen, um nach Pitot zu suchen und konnte oft trotzdem nichts finden. Ich bin nicht mehr jung, und ich kann nicht sechs oder sieben Stunden für Pita anstehen. Ich bin jetzt im siebten Monat hier, und ich weiss nicht, wie lange noch. Noch ein Jahr? Noch zwei Jahre? Wer wird dann noch übrig sein? Und wer wird sterben? Das weiss nur Allah.
Ich habe angefangen zu vergessen, was es vorher in unserem Leben gab. Sobald Trump die Macht übernimmt, werden sie uns entweder töten oder vertreiben oder er wird diesen Krieg beenden. Die Leute hier sagen: Warum macht Netanjahu nicht Schluss mit uns? Manche hoffen, dass Netanjahu gesund bleibt und alle Hamasniks beseitigt. Ich hoffe, dass nicht einer von ihnen übrig bleiben wird. Was sie uns angetan haben! Warum haben sie das am 7. Oktober getan? Wir warten auf Trump und wir sagen: Entweder er wird den Krieg beenden und uns in unsere Häuser zurückbringen, oder sie wollen uns gar nicht und er wird Netanjahu sagen, dass er tödliches Material auf uns abladen und uns fertig machen soll.
Das ist so, weil die meisten Menschen die Nase voll haben. Die Leute weinen. Wir wissen nicht, bis wann. Bis wann? Warum lebe ich in einem Zelt? Wegen der Leute, die Jerusalem zurückhaben wollen? Welches Jerusalem? Und ich zahle den Preis dafür.
Du kannst mich nicht sehen. Ich bin dünn wie ein Stock. Ich wog 95 Kilo und jetzt 73. Von der UNRWA bekomme ich Insulin und Tabletten gegen den Blutdruck und zur Stärkung meiner Nerven wegen des Schlaganfalls. Soldaten sehen wir hier nicht. Wir hören nur die Panzer, die Schüsse und die Explosionen. Wir sehen die Apache [Hubschrauber], gestern haben sie ein Lager neben uns beschossen. Und auch die F-15.»
Am Ende erinnert er Gideon Levy an die Orte, die sie gemeinsam besucht haben: «Es ist gut, dass mein Gedächtnis mich nicht verlassen hat. Inshallah, wir werden uns wiedersehen, Gideon. Gute Nacht.»
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