Es war ein abscheulicher Anschlag einer abscheulichen Ideologie. Die Erinnerung an seine brutale Wucht löst auch heute noch Betroffenheit aus. Drei Terroristen mit europäischen Pässen und arabischen Wurzeln stürmten am Abend des 13. November 2015 um 21:40 Uhr in das Pariser Musiklokal «Bataclan» und feuerten in die Menge hinein, die einem Auftritt der US-Rockband «Eagles of Death Metal» beigewohnt hatte. 90 Konzertbesucher wurden getötet, mehrere Hundert verletzt, viele schwer.
Kurz davor hatten drei Selbstmordattentäter vergeblich versucht, in das Pariser Fussballstadion Stade de France einzudringen, wo gerade ein Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich begonnen hatte. Da ihr Vorhaben nicht gelang, zündeten sie ihre Sprengstoffgürtel ausserhalb des Stadions, sodass mit viel Glück keine Menschen mit in den Tod gerissen wurden.
Drei weitere Terroristen preschten mit einem schwarzen Seat zur gleichen Zeit durch die Pariser Innenstadt und erschossen, aus ihrem Wagen heraus, wahllos Passanten und Restaurantgäste. Ihre blutige Spur durch den Freitagabend hinterliess 40 Tote und Hunderte von Verletzten.
Die Massenexekution in Paris an jenem Freitag, dem Dreizehnten im November war ein umso grösserer Schock, da das Jahr 2015 mit einem grausamen Attentat in der gleichen Stadt schon begonnen hatte. Am 7. Januar – wir erinnern uns – stürmten zwei Islamisten die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo». Sie liessen elf Tote zurück, unter ihnen der Herausgeber selbst, Karikaturisten und weitere Anwesende, die zum Umfeld der Zeitschrift gehörten.

Die erste Charlie Hebdo-Nummer nach dem Anschlag am 7.1.2015 (Bild Netzfund)
Erschossen wurde auch ein Beamter der Polizei. Er war zum Personenschutz eingestellt worden, nachdem Karikaturen des Propheten Mohammed vier Jahre vorher zu einem Brandanschlag auf die Redaktion geführt hatten. Der Brandanschlag war eine Warnung, doch die Satiriker liessen sie unbeachtet. Weitere Mohammed-Karikierungen erschienen – bis zum Morgen des 7. Januar.
Die Attentäter, die sich zum islamistischen Netzwerk von al-Kaida bekannten, riefen zu Beginn des Überfalls ihren Gott an – und verliessen den Raum im Triumph, Mohammed, ihren Propheten gerächt zu haben:
On a vengé le prophète!
Auch für die 130 Toten am Ende des gleichen Jahres in der Pariser Innenstadt und im «Bataclan» wurde Allah von seinen radikalen Jüngern gepriesen. Man habe die französische Metropole mit dem Segen Gottes als «Hauptstadt der Unzucht und der Hurerei» angegriffen, frohlockte der Islamische Staat in einem Bekennerschreiben am Tag danach. Das Attentat auf das Konzertlokal Bataclan wurde damit legitimiert, dass sich dort «Hunderte Götzendiener in einer perversen Feier versammelt» hätten.
Was die Terroristen nicht ahnen konnten: Als ihr Angriff begann, hatte die Band gerade das nächste Stück intoniert. Es hiess «Kiss the devil» – ein diabolischer Soundtrack des darauf folgenden Massakers.
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Die Attentäter vom 7. Januar und vom 13. November empfanden ihr schreckliches Tun nicht als unmoralisch. Sie handelten, wie wir wissen, in höherem Auftrag. Wörtlich stand im Bekennerschreiben der Islamisten:
Eine Gruppe von Gläubigen, Soldaten des Kalifats haben sich vom irdischen Leben getrennt, sie haben den Tod gesucht und die Feinde Allahs erniedrigt. Allah hat ihre Hände geführt und Angst in die Herzen der Feinde gebracht.
Die Gotteskämpfer wollten den Menschen im Westen vor Augen führen, dass sie als Gottesleugner in Sünde lebten und kein besseres Los verdienten als Tod und Verdammung. Aber die Menschen im Westen waren davon nicht beeindruckt. Sie krochen nicht, um Gnade winselnd, zu Kreuze, sondern taten das Gegenteil. Bereits nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» stellten sie sich zu Tausenden hinter die Opfer der Terrorattacke.
Die Satirezeitschrift mit ihren provozierenden Karikaturen erlebte eine überwältigende Solidarität. Der europaweit ertönende Schlachtruf «Je suis Charlie» ist uns immer noch gegenwärtig. Allein in Paris versammelten sich am Wochenende nach dem islamistischen Angriff weit über eine Millionen Menschen, um ihre Verbundenheit mit «Charlie Hebdo» zu demonstrieren. Mehrere Millionen waren es in ganz Frankreich, Hunderttausende in anderen europäischen Städten.

Charlie-Manie: Millionen gingen auf die Strasse und skandierten «Je suis Charlie» (Bild Netzfund)
Jetzt, zehn Jahre danach, ist die Betroffenheit über das, was in Paris 2015 geschah, noch einmal erwacht. Bereits im Januar dieses Jahres gab es eine Zeremonie zur Erinnerung an den Anschlag auf «Charlie Hebdo», an der auch Frankreichs Ministerpräsident Macron teilnahm. In den Ansprachen wurde der Slogan «Je suis Charlie» wieder und wieder erwähnt und zum Losungswort für Meinungsfreiheit erklärt.
Das Satiremagazin selbst brachte unter dem Titel «Indestructible» eine Sondernummer heraus, in der als Resultat eines Wettbewerbs Karikaturen von Gott gezeigt wurden – solche von Allah, aber auch von anderen Göttern. Im Editorial verteidigte «Charlie Hebdo» die Freiheit der satirischen Darstellung und beharrte darauf, weiterhin provozieren zu wollen. Ein Zurückweichen vor einem autoritären Gottesverständnis komme für das Heft nicht in Frage.
Auch jetzt, am 13. November, zehn Jahre nach dem Anschlag auf das «Bataclan», wurde in Paris der Opfer gedacht. Mit Gedenkzeremonien an den Tatorten, den Worten von Hinterbliebenen, mit Blumen und Schweigeminuten erinnerte sich Paris an den Abend des Schreckens. Auch diesmal war der Präsident an den Feierlichkeiten dabei – und am Abend erstrahlte der Eiffelturm selbstbewusst in den Farben der Republik.
«Seit dem 13. November gibt es eine Leerstelle, die bleibt», sagte in ihrer Rede die Tochter eines der Toten des Bataclan. «Mein Vater liebte das Leben, er glaubte an die Freiheit und die Freude, zusammen zu sein.»
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Die Freiheit. Sie war das zentrale Credo am Tag des Gedenkens - die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Kunst, der Musik, die Freiheit, das Leben geniessen zu dürfen. Wahre Worte. Wichtige Worte. Aber auch Worte, über die man nachdenken muss. Denn auch jetzt, zehn Jahre danach, fehlen andere Worte. Worte der Reflexion. Worte des In sich selber Hineinhörens.
So empfand ich es damals schon, nach dem 13. November 2015, aber noch mehr nach der Attacke auf Charlie Hebdo kurz nach Neujahr. Auch ich hätte damals in die alles andere übertönende Parole für Charlie einstimmen können. War nicht gerade ich als Kulturschaffender aufgerufen, mich für die freie Satire zu engagieren? Und hatte nicht auch ich, zehn Monate später, die moralische Pflicht, mich für die freie Darbietung von Musik auszusprechen?
Aber so sehr auch mich die Terroranschläge betroffen machten - ich konnte mich der Unterstützung für Charlie Hebdo, die auch in der hiesigen Szene selbstverständlich erwartet wurde, nicht anschliessen. Sondern ich dachte nach. Und irgendwann begann ich zu schreiben. Einen Ort für meinen Gedankengang gab es nicht. Vielleicht gibt es ihn jetzt.
Wenn ich in den folgenden Zeilen von «uns» schreibe, meine ich nicht die mittlerweile Erwachten. Die gab es damals, vor Corona, noch nicht. Als ich von «uns» schrieb, meinte ich alle. Wir Menschen im Westen. Wir Ungläubigen.
Meinungsfreiheit, die Islamisten - und wir (2015)
Wie hat denn alles begonnen? Da sitzen seit vielen Jahren in einer Redaktion in Paris ein paar Autoren und Zeichner und lassen, etwas salopp gesagt, satirisch die Sau raus. Sie bewegen sich lustvoll unter der Gürtellinie und dies mit besonderer Schadenfreude, wenn es um Gotteslästerung geht.
Andere Satireblätter in Westeuropa tun dasselbe. Sie gefallen sich in ihrem Sarkasmus, und ihr mehrheitlich intellektuelles Publikum applaudiert. Blasphemie ist für Intellektuelle wie Nahrung. Da sie an keine höhere Macht glauben, erlaben sie sich am Spott gegen jegliche Gläubigkeit.
Das dankbarste Opfer bisher - aus verständlichen Gründen – war die katholische Kirche. Ihre pädophilen Exzesse waren ein Festschmaus für die Satire, doch da der Papst alle Verfehlungen zugibt, macht es keinen richtigen Spass mehr, ihn auszulachen. Gläubige Esoteriker in die Pfanne zu hauen, ist auch nicht mehr lustig - die lassen sich alles gefallen und wehren sich nicht.
Islamisten sind da ganz anders. Über ihren Propheten zu spotten, ist richtig gefährlich. Da wird die satirische Spielerei zum Spiel mit dem Feuer.
Europas Satiriker haben das Spiel mit teuflischer Freude gespielt - und die Leser fanden es spannend. Je böser die Karikatur, um so hämischer war der Applaus. Am Tag des Attentats blieb den Freunden von «Charlie Hebdo», etwas zynisch gesagt, das Lachen im Halse stecken. Doch die Toten waren noch nicht begraben – bereits ertönte der Ruf: Jetzt erst recht! Bringt neue Mohammed-Karikaturen!
Wer zur Besonnenheit riet, dem wurde erklärt: Wir dürfen nicht kapitulieren vor der Bedrohung. Meinungsfreiheit ist nicht verhandelbar! Hunderttausende demonstrierten. Hunderttausende schrieben sich auf die Brust «Je suis Charlie». Aber ging es tatsächlich um Meinungsfreiheit?
Im Grunde ging es bloss um das Recht, weiterhin gegen Mohammed lästern zu können.
Warum finden wir das so wichtig? Die Anti-Mohammed-Karikaturen stehen für unseren Anspruch auf eine Freiheit, die keine Grenzen hat. Wir, die verwöhnten Kinder des westlichen Wohlstands, wollen auch weiterhin alles dürfen, ohne uns zu beschränken und Rücksicht zu nehmen. Wir wollen so hemmungslos konsumieren, so dekadent leben und so selbstgerecht reden und schreiben, wie es uns gerade gefällt.
Die Meinungsfreiheit, deren Banner wir so aufgeklärt schwingen, ist für uns zu selbstverständlich geworden. Wir missbrauchen sie für die blosse Lust an der Provokation. Und was noch viel gravierender ist: Meinungsfreiheit erschöpft sich für uns in der Freiheit, andere kritisieren zu dürfen. Über uns selbst nachdenken wollen wir nicht.
Wozu auch? An unserer Haltung müssen wir im Grunde nichts ändern. Es geht uns gut, und ein hochgerüsteter Polizeiapparat schützt uns vor islamistischem Terror. Natürlich ist Europa nicht unverwundbar - wie jeder neue Anschlag wieder beweist. Doch die arabische Welt bedroht uns nicht ernsthaft. Gegen Europa, gegen die USA und die gesamte westliche Welt bleibt der Orient ohne Chance. Europa ist noch immer in jeder Beziehung wohlhabender und ökonomisch entwickelter. Was die Lebensqualität angeht, würden die meisten Araber sofort mit uns tauschen – wir aber nicht mit ihnen.
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Aber eines haben sie uns alle voraus: die Gewissheit des Glaubens. Selbst der ärmste Ägypter, Syrer oder Iraker fühlt sich als Reicher, weil er den wahren Glauben besitzt. Der Islam ist sein ganzer Stolz, er ist das Einzige, was ihm gehört und nicht uns. Und er ist umso stolzer darauf, weil er weiss, dass wir keine Gläubigen sind. Wir haben zwar immer noch unsere Kirchen, doch aus moslemischer Sicht kennen wir bloss noch einen Tempel – den Tempel, aus dem schon Christus die Händler vertrieb.
Daraus beziehen die Mohammedaner weltweit ihr Selbstbewusstsein: Wir Menschen des «Westens» haben das Geld – doch sie haben Gott. Ertragen sie ihre Armut nicht länger und flüchten sie nach Europa, dann stranden sie nicht als Bettler bei uns. Sie bringen den Glauben mit. Der Islam ist das Feuer, das ihnen Wärme und Zuversicht gibt.
Wir aber giessen das Wasser der kühlen Vernunft in die Flammen der Frömmigkeit. Ohne es zu beabsichtigen, verletzen wir die Gefühle der Moslems: Ihren Propheten ehren wir nicht, ihrer Bibel misstrauen wir, ihre Minarette wollen wir nicht und selbst ihre Kopftücher finden wir unangebracht. Islamische Kindergärten tolerieren wir nicht, auch moslemische Mädchen müssen den Schwimmunterricht besuchen - und europäische Frauen blicken moslemischen Männern geradeaus in die Augen, ohne weibliche Demut zu zeigen.
Dies alles ist legitim, weil hier unsere Sitten herrschen. Fremde, die bleiben wollen, müssen sich anpassen, so ist es überall. Doch gläubige Moslems bei uns in Europa ertragen das nicht. Sie empfinden unsere Forderungen nach Integration als Ablehnung ihres Gottes. Wir entwerten das einzige, worin sie uns überlegen sind. Wenn wir dann noch verspotten, was für sie heilig und ewig ist - rächen sie sich. Dann greifen die Fanatischen unter ihnen zur Waffe.
Sie rächen sich ohne Skrupel und ohne Mitleid, weil sie uns für verachtenswert halten. Sie verachten uns, weil wir keine Ehrfurcht vor Gott haben, und sie verachten uns, weil wir sie nicht verstehen, aber Verständnis heucheln. Sie spüren, dass unsere Toleranz die Grosszügigkeit des Besitzenden ist, der sein schlechtes Gewissen beruhigt. Dafür hassen sie uns noch mehr.
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Was aber haben alle Islamisten gemeinsam? Es sind Männer. Hinter fanatischen Männern stehen zwar, wie so oft, auch eifernde Frauen und Mütter. Doch was immer im Namen Allahs und seines Propheten geschieht – die Täter sind Männer. Männer sind es, die morden und exekutieren, Geiseln erschiessen und ganze Dörfer auslöschen. Männer sind es, junge tatendurstige Moslems, die in die Ausbildungslager der Islamisten strömen. Ihre arabische Welt ist nicht mehr intakt und die westliche Welt nicht erreichbar; sie stehen irgendwo mittendrin, dürsten nach Identität, nach Mission - und finden sie im islamischen Kreuzzug.
Auch die jungen europäischen Moslems stehen zwischen zwei Welten. Zuhause in ihren Familien gelten noch immer Koran und Patriarchat. Doch kaum verlassen sie ihre arabischen Viertel, werden sie konfrontiert mit Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen, Polizistinnen und Chefinnen. Haben sie es mit männlichen Bezugspersonen zu tun, dann vertreten auch diese immer mehr sanfte und gewaltfreie Werte. Wo also können die jungen Moslems noch Männer sein? Wo dürfen sie noch dem Bild entsprechen, das ihr Vater von ihnen erwartet hat?
Da hilft nur noch eins: in den Heiligen Krieg ziehen und die Ungläubigen, die so unmännlich sind, töten. Auch dies hat die Täter in Frankreich bewegt, ihren Hass in die Tat umzusetzen. Gross geworden zwischen Supermarkt und Moschee, wollten sie Helden und Kämpfer sein für den Gott, an den ihre Gegner nicht glauben. Als Männer wollten sie kämpfen, und als Männer wollten sie notfalls sterben.
Die Gleichgültigkeit, mit der sie gemordet haben, ist schrecklich, und es tun sich Abgründe auf zwischen ihnen und uns. Mit solchen Menschen gibt es keine Verständigung. Eines aber haben die Opfer mit ihren Mördern gemeinsam: Alle elf Toten von «Charlie Hebdo» - mit einer Ausnahme – waren ebenfalls Männer.
Ich sehe dies nicht nur als Zufall. Satire ist vorwiegend Männersache. (Beim deutschen Satiremagazin «Titanic» beispielsweise stehen auch heute noch 5 Redaktoren nur 2 Redaktorinnen gegenüber, und 55 von 62 ständigen Mitarbeitern sind nach wie vor Männer.) Alle umstrittenen Mohammed-Karikaturen wurden – soweit mir bekannt ist - von Männern gezeichnet. Es sind Männer, die sich über Mohammed lustig machten. Und ich vermute, dass es hauptsächlich Männer waren, die darüber lachten.
Mit anderen Worten ging es hier nicht zuletzt um eine Angelegenheit unter Männern: Männer, angefeuert von anderen Männern, provozieren eine von Männern geprägte, von Männern repräsentierte Kultur – und werden dafür, wieder von Männern, getötet. Frauen, so hoffe ich immer noch, würden anders handeln.
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Was könnten wir aus der ganzen traurigen Angelegenheit lernen? Wir könnten lernen, mit dem kostbaren Gut der Meinungsfreiheit etwas weniger «männlich» umzugehen. Wir könnten lernen, Meinungsfreiheit nicht als Waffe zu sehen, nicht als ein Pfeileschiessen gelangweilter Demokraten – sondern als Privileg. Und vor allem könnten wir lernen, dass Meinungsfreiheit nicht nur ein Recht ist, sondern eine Verpflichtung: die Bereitschaft nämlich, eine andere Meinung auch dann zu achten und zu bedenken, wenn sie uns total widerspricht.
Die Meinung der Moslems zum Beispiel: Ihre Gläubigkeit ist uns fremd. Und es kümmert uns nicht besonders, dass wir aus ihrer Sicht «Ungläubige» sind. Das entspricht uns sogar. Wir haben Gründe dafür. Unsere Erfahrungen mit 2‘000 Jahren «christlicher» Doppelmoral sind nicht die besten. In den Kirchen wird es leerer und leerer. Was die Pfaffen von Gott erzählen, berührt uns nicht. Wir empfinden es als frommes Geschwafel.
Aber selber suchen wollen wir auch nicht wirklich. Die Mehrzahl der westlichen Menschen glaubt an gar keinen Gott mehr - weil es bequemer ist, ohne Gott zu leben. Man muss sich nicht so viele Gedanken machen. Man bewältigt den Alltag, geniesst die Freizeit und gibt sich mit der Vermutung zufrieden, dass nach dem Tod ohnehin alles aus ist.
Wollen wir wirklich so leben? Unsere aufgeklärte moderne Weltsicht mag uns richtig erscheinen und logisch durchdacht sein. Aber ich glaube nicht, dass sie wahr ist. Welche westliche Überheblichkeit gibt uns das Recht, davon auszugehen, dass wir klüger sind als ein einfacher Moslem, der die tiefe Gewissheit hat, dass Gott existiert?
Wer weiss: Vielleicht kommen deshalb so viele gläubige Menschen zurzeit nach Europa - damit auch wir wieder glauben lernen. Es muss nicht der Gott einer Kirche sein. Es muss überhaupt kein «Gott» sein. Glaube ist etwas Persönliches. Ich kann auf meine ganz eigene Art Ehrfurcht vor der Schöpfung entwickeln. Aber ein Feuer, um mich zu wärmen, brauche auch ich.
Unser Kolumnist Nicolas Lindt legt bis zur Fertigstellung seines kommenden neuen Buches eine mehrwöchige Pause ein. Er meldet sich Mitte Dezember zurück.