Wie aktuell ist das Werk «Biedermann und die Brandstifter» von Max Frisch? Der Schriftsteller Thomas Brändle holt den Klassiker aus dem Bücherschrank und adaptiert ihn an die heutige Zeit. Kolumne.

Max Frisch mit Oskar Wälterlin bei den Proben 1958 © Hans Gerber/Sammlung ETH-Bibliothek

Ottfried Biedermann war sehr betrübt. Über Generationen hatte die Haarwasserfabrik seiner Familie nicht nur zu einem konstanten und komfortablen Einkommen, sondern auch zu einem stattlichen Vermögen gereicht. Vor einigen Jahren übernahmen sie zudem eine Firma zur Produktion von Echthaarperücken und beteiligten sich an der Entwicklung eines Tests zur Diagnostizierung von drohendem Haarausfall. Aber der Wind hatte über die vergangenen Jahre stetig und unumkehrbar gedreht. Kahlköpfigkeit wurde en vogue und war nicht mehr länger Sinnbild für fehlende Vitalität.

Angefangen hatte es ganz harmlos mit den bekannten Schauspielern Yul Brynner und Telly Savalas als TV-Kommissar Kojak, erinnerte sich Biedermann. Inzwischen aber trugen auch Hinz und Kunz ihre nackten Schädel schamlos zur Schau. Selbst der nationale Gesundheitsminister machte keinen Hehl daraus, genauso wenig wie sein Pendant auf kantonaler Ebene. Ja, sogar der hiesige Apotheker war frei von Kopfhaar und hatte entsprechend wenig Motivation Biedermanns Haarwasser anzupreisen. So konnte es jedenfalls nicht weitergehen.

Bei einem abendlichen Besäufnis mit seinen Kumpels erzählte Ottfried Biedermann weinerlich von seinem Kummer. Einer der Teilhabenden war zufällig Chefredakteur einer grossen Tageszeitung und machte anderntags eine reisserische Story daraus, die es irgendwie auf die Titelseite schaffte: Ein übles Pamphlet auf die verantwortungslosen Glatzköpfigen, dass sie unter anderem für den Niedergang der heimischen Wirtschaft verantwortlich seien.

Selbstverständlich wurde der Chefredakteur umgehend gefeuert, aber manche Leserinnen und Leser fanden dennoch das eine oder andere Körnchen Wahrheit in dem Artikel und berichteten in zahllosen, nicht enden wollenden Zuschriften von eigenen unschönen Erlebnissen mit Kahlköpfigen. Zufälligerweise war auch der Besitzer der Zeitung, der den Chefredakteur entliess, ein haarloses Mannsbild und so nahm das Schicksal seinen unheiligen Lauf. Durch die Konsequenzen eines feuchtfröhlichen Abends wurde in einer abstrusen Verkettung von Umständen, angetrieben von Neid, Missgunst, Geld- und Machtgier eine militante Massenbewegung gegen alle Glatzköpfe.

Politiker aller Couleur und weitere Medien nahmen den Ball mangels Lösbarkeit wichtigerer Problemstellungen dankbar auf und beteiligten sich an der Stimmungsmache gegen die nichtsnutzigen, parasitären Kahlen. Der inzwischen perückte Gesundheitsminister berief eine Task Force ein, die sich der ausserordentlichen Lage vertieft annehmen und die Regierung wissenschaftlich evident beraten sollte. Vorsitzender der Task Force wurde der bis anhin unbekannte Möbius Dürrenmatt, ein preisgekrönter, unabhängiger Physiker und zufällig verdientes Mitglied des Verwaltungsrates von Biedermanns Haarwasserimperium.

Bald standen das übergeordnete Ziel und der gemeinsame Feind unverrückbar fest: Der grassierende Haarverlust musste um jeden Preis eingedämmt werden. Die Ausrufung des nationalen Notstands war unvermeidlich. Merkwürdige Massnahmen wurden erlassen, Grundrechte ausser Kraft gesetzt. Eine Diskussion darüber verscheuchte man mit dem Argument der Haarspalterei. Der Umgang mit Glatzköpfigen sei zu meiden, da man Hinweise auf potenzielle Ansteckung habe.

Heerscharen von anbiedernden Wissenschaftlern bestätigten jedes noch so groteske Horrorszenario der Task Force, die Biedermann in einem vertraulichen Gespräch unter Freunden als seine hauseigenen Brandstifter betitelt haben soll. Renommierte Wissenschaftler mit gegenteiligen Erkenntnissen galten bald als umstritten oder bekamen im Labor überraschend Besuch von der der Steuerprüfung. Unter Berücksichtigung des Bevölkerungszuwachses und der demografischen Entwicklung gab es zwar nie eine signifikante Zunahme der Kahlköpfigen, aber um das einzugestehen war es irgendwann schlicht zu spät. Die Glatzköpfigen waren längst zur Wurzel allen Übels und ihre Vernichtung zur Lösung aller Probleme stilisiert worden.

Bald empfahl man Biedermanns Haarwasser als elegantesten und alternativlosen Ausweg aus dem nationalen Dilemma. Aber die Bevölkerung liess sich nur zögerlich darauf ein, da man um die Wirkungslosigkeit von Biedermanns Haarwasser wusste und auch die neuen Produkte noch wenig erprobt waren. Biedermann konnte zwar dennoch einen nicht unerheblichen Umsatzzuwachs in allen drei Geschäftssparten feststellen, aber nun hatte er Blut und Haare geleckt. Die aktuelle Situation war zu verführerisch, um sie nicht zu nutzen.

Prof. Jean-Baptiste Molière, ein ranghohes Mitglied der Task Force und geschäftlich liiert mit Biedermanns Kopfhaardiagnosetestprojekt, dramatisierte die Situation also zusätzlich und brachte den sogenannt «Asymptomatisch Glatzköpfigen» ins Gespräch. Nun konnten sich auch Menschen mit üppigem Haarschopf ihrer nicht mehr sicher sein. Endlich machte sich richtige Panik breit. Biedermanns Brandstifter hatten die Lunte gezündet.

In den Medien gaben sich vermehrt Experten ein Stelldichein, die die bis anhin unauffällige, aber dennoch offenkundige Kahlköpfigkeit Neugeborener in neuem Licht darstellten. Um den gestressten Bürgerinnen und Bürgern des Landes einen Ausstieg in Aussicht zu stellen, präsentierte die Firma Biedermann ihren neu entwickelten Test zur diagnostischen Feststellung der Haarpracht vor. Die gesamte Bevölkerung wurde ermuntert, sich entweder wiederholt mit Haarwasser zu behandeln oder mittels Test das Vorhandensein des Haupthaars zu beweisen. Als Belohnung winkte ein Zertifikat, welches dem Inhaber ermöglichte, wieder ungehindert sämtlichen alltäglichen Aktivitäten nachzugehen.

Langsam, aber sicher machte sich in der Bevölkerung Unmut breit, die mit der Zeit gar in wiederholte und anwachsende Demonstrationen in der Hauptstadt ausarteten. Das Narrativ des Gesundheitsministers und seine aussereheliche private Erquickung mit einer Tochter des Haarwasserfabrikanten Biedermann lieferten stetigen Gesprächsstoff und Grund zu haltlosen, aber hartnäckigen Spekulationen. Auch der eine oder andere Politiker getraute sich inzwischen aus der Deckung und richtete sein Fähnchen vorsorglich nach der aufkommenden Brise.

Ein Vertrauter des Ministers legte ihm nahe, die Geschichte vom «Blaumilch-Kanal» zu lesen. Der berühmte Holocaustüberlebende und jüdisch-israelische Satiriker Ephraim Kishon habe darin skizziert, wie die Regierung eine vermeintlich ausweglose Situation, in die sie sich selbst manövriert hatte, zu ihrem Vorteil nutzte, um der Wut des Volkes zu entgehen. In dessen anderem bekannten Roman «Mein Kamm» habe er zudem angeleitet, wie eine unschuldige Minderheit zum Sündenbock gemacht werden könne. Mit der Tatsache, dass in jenem Roman Glatzköpfe gejagt werden, verfolge Kishon zwei Ziele. Er zieht die schrecklichen Verbrechen ins Lächerliche und zeigt gleichzeitig, dass es den Menschen völlig gleichgültig ist, welche Minderheit sie ausgrenzen und sei es noch so absurd.

Über

Thomas Brändle

Submitted by admin2 on Do, 08/18/2022 - 14:51

Thomas Brändle lebt im zugerischen Ägerital, ist Familienvater, Bäcker-Konditor-Confiseur, gewerblicher Kleinunternehmer, www.cafe-braendle.ch, Autor (Mitglied ISSV, AdS, PEN), alt Kantonsrat, Mitinitiant der www.vollgeld-initiative.ch. In seinem Romanerstling «Das Geheimnis von Montreux» thematisierte er Kellers Prophezeiung durch den Protagonisten Marco Keller, Nationalrat und Nachfahre des Schriftstellers Gottfried Keller.

Die Bücher von Thomas Brändle.