Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt

Auf einmal geht das Licht aus. Stromausfall (© N.Lindt)

Um etwa 14:30 Uhr geschah es. Ich sitze am Schreibtisch in meinem Refugium im Bündnerland, ich höre ein leises Knacken – die Schreibtischlampe verlöscht, der Kühlschrank, der eben noch brummte, verstummt, und die Internetseite lässt sich nicht mehr neu laden. Kein Schalter, den ich betätige, reagiert.

Der Strom ist ausgefallen.

Meine erste Vermutung: Eine Sicherung ist defekt. Ich schaue nach im Sicherungskasten, aber alles ist richtig geschaltet, also kann der Fehler nicht bei mir liegen. Aber wenn ich mich an frühere Stromausfälle erinnere, dauert es höchstens ein paar Minuten, dann ist der Strom wieder da.

Ich arbeite also weiter, ohne Strom, ich wechsle in den Batteriemodus, und das Internet auf dem PC kann ich auch mit dem Handy öffnen. Aber da merke ich, dass mich friert. Vorher dachte ich gar nicht daran. Jetzt brauche ich etwas Warmes. Eigentlich wollte ich mir verspätet ein Essen kochen. Das geht jetzt nicht mehr. Nicht einmal eine Tasse Kaffee kann ich mir gönnen. Nicht einmal eine kleine Tasse heissen Kaffee.

Das Telefon dafür funktioniert noch, also telefoniere ich dem Stromlieferanten, der im Bündnerland für viele Gemeinden in der Surselva den Strom liefert. Ich frage, was los ist. Die Dame am Telefon bestätigt meinen Verdacht, es handelt sich tatsächlich um einen gröberen Stromausfall, der viele Gemeinden betrifft, und ich sei nicht der erste, der sich erkundigt. 

Im Moment gehöre ich zu den weniger Glücklichen. 

Das beruhigt mich ein wenig, zu wissen: Ich bin nicht der Einzige ohne Strom, und ich sage zu der Dame am Telefon, wenigstens diesen Trost habe ich, dass auch bei Ihnen der Strom nicht mehr fliesst. Oh nein, sagt sie, bei mir funktioniert er, denn unsere Zentrale ist hier in Landquart. So gibt es die Glücklichen und die weniger Glücklichen, denke ich, und im Moment gehöre ich zu den weniger Glücklichen. 

Aber nach wie vor bin ich zuversichtlich, die Dame vom Strom ist es auch, und ich arbeite weiter. So vergeht eine Stunde – und noch immer kein Strom. Die Konzentration wird allmählich schwierig, denn eine innere Unruhe regt sich in mir, ein Gefühl, dass etwas nicht stimmt, obwohl doch eigentlich abgesehen vom fehlenden Strom nach wie vor alles stimmt! 

Mir ist immer mehr kalt, und ich überlege mir, einen Pulverkaffee mit Wasser vom Boiler zu trinken, denn das Boilerwasser ist im Moment noch heiss. Aber ich verzichte darauf. Ich bin noch nicht soweit, dass ich bereit wäre, Dinge zu tun, die ich normalerweise nicht tun würde.

Immer wieder betätige ich den einen oder anderen Schalter, in der Hoffnung, das Wunder des Lichts kehre endlich zurück – doch umsonst. Auf einmal kommen mir Zweifel. Ich zweifle, ob wirklich alle Nachbarn betroffen sind, ob es nicht auf die Leitung ankommt? Ich schaue zum Fenster hinaus, ob ich vielleicht in einem der anderen Häuser Licht entdecke. Wie ungerecht wäre das. Doch nirgends brennt Licht. Alles ist ruhig. Die Welt, so scheint es, steht still.

Ich sehe auf der Strasse unten ein Auto und überlege mir ernsthaft, warum das Auto in diesem Stillstand, den ich erlebe, noch fahren kann – bis mir klar wird: Das Auto fährt nicht mit Strom, es fährt mit Benzin. Einmal mehr ist Benzin dasjenige, das immer noch funktioniert, und ich schwöre mir, dass ich nie auf ein Elektroauto umsteigen werde.

Um mich aufzuwärmen, hole ich mir die Bettdecke und lege mich auf die Couch, nur kurz, ich stelle sogar den Wecker. Sofort schlafe ich ein – als wollte ich der Verunsicherung, die ich spüre, dadurch entkommen. Ich hoffte vielleicht, dass, wenn ich erwache, der Ausnahmezustand vorbei ist. Doch als ich die Augen aufschlage, fällt mein erster Blick auf die Glühbirne in der Stubenlampe. Sie ist immer noch dunkel. Dunkel und tot.

Wie blockiert bleibe ich liegen, erstaunt über mich selbst, wie sehr mich dieses bisschen Stromausfall zu lähmen vermag. Wie müssen erst Menschen in Kriegsgebieten oder in armen Ländern sich fühlen, die täglich unter Stromausfall leiden? Ich beruhige mich damit, dass ich mir sage, sie sind es gewohnt. Ich bin es mir nicht gewohnt. Aber ist das der Anfang, frage ich mich, muss ich lernen, mich daran zu gewöhnen? Wird die Normalität nicht mehr die Regel sein, sondern die Ausnahme?

Die wachsende Unruhe lässt mich aufstehen, ich habe Hunger, esse in der Not etwas Kaltes und stelle mit Erleichterung fest, dass ich nichts im Gefrierfach aufbewahrt habe. 

Entschlossen will ich weiterarbeiten, aber es will nicht klappen. Vor allem erscheint jetzt der Hinweis: Die Batterie geht zur Neige. Das Leben will also nicht, dass ich weiterarbeite. Es will mich am Schreiben hindern, es zwingt mich mit sanfter Gewalt, Pause zu machen. Der Stromausfall als Entziehungskur.

Eigentlich, denke ich, könnte ich immer noch schreiben, auch ohne PC. Papier und Bleistift wären vorhanden. Aber wann habe ich das letzte Mal etwas von Hand geschrieben? Das ist lange her. Ich suche im Internet – solange der Batteriemodus noch hält – nach Informationen über den Stromausfall. Aber ich finde nichts.

Ich schaue nach draussen – es ist kalt, es regnet, und bald wird die Heizung erkalten. Ich könnte im Kamin ein Feuer entzünden. Doch was nützt mir ein Feuer, wenn es dann dunkel wird? Dann geht gar nichts mehr. Und wie zum Zeichen, dass tatsächlich bald die Dunkelheit kommt, wird jetzt der Bildschirm schwarz. Also kann ich definitiv nichts mehr tun. Also muss ich abreisen, das ist die einzige Alternative, die ich noch habe. Ich muss zurück ins Unterland.

Bevor ich meine Sachen packe, beschliesse ich einen Gang hinunter ins Dorf, zu den obersten Häusern. Ich möchte mit jemandem reden. Ich möchte wissen, wie es anderen geht. Eine Frau, die ich treffe, bestätigt mir, dass wirklich niemand mehr Strom hat. Und sie sagt: Dieser Stromausfall ist der längste, den ich bisher erlebte. 

Aber sie nimmt es nicht weiter tragisch und meint, im Notfall mache ich mir einen gemütlichen Abend bei Kerzenlicht. 

Das kann ich mir gar nicht vorstellen, antworte ich, dann kann ich ja nicht mal mehr lesen! Die paar Kerzen im Haus würden nicht reichen und irgendwann geht auch dem Handy der Strom aus. Dann funktioniert auch die Taschenlampe nicht mehr. 

So wie Corona vorbeiging, ging auch der Stromunterbruch vorbei.

Ich kapituliere. Zurück im Haus, nach einem letzten Zögern, beschliesse ich abzureisen. 

Genau in diesem Moment, als ich mich dem Schicksal ergeben habe – in diesem Moment geht das Licht wieder an. Der Kühlschrank beginnt wieder zu brummen, die Heizung startet und der Bildschirm bekommt wieder Farbe. Als ob das Leben zurückkehren würde, so kommt es mir vor, und mir fällt das Märchen vom Dornröschen ein, wo nach 100 Jahren Stillstand alles wieder zu leben beginnt, wo der Koch dem Küchenjungen die versprochene Ohrfeige doch noch verpasst. Er hatte schon ausgeholt mit dem Arm, hundert Jahre davor, doch dann, auf einmal stand alles still, alles schlief ein bis zum Augenblick, wo der Prinz die Prinzessin küsste und alles wieder erwachte und der Küchenjunge die Ohrfeige doch noch erhielt. 

Drei Stunden immerhin hat der Stromunterbruch gedauert, doch nun ist der Strom wieder da, und ich denke: Es ist eben doch so in der Schweiz – immer wieder wird alles gut. Meine Vorstellung mag naiv sein, aber ich halte unerschütterlich an ihr fest. Ich will meine Zuversicht, dass das normale, gewohnte Leben am Ende zurückkehrt, nicht fallen lassen. 

So wie Corona vorbeiging, ging auch der Stromunterbruch vorbei. Ich kann weiterleben so wie geplant. Ich kenne nichts anderes. So muss es sein. 

Die Normalität kommt uns manchmal banal vor. Oft denken wir, unser Alltag ist immer der gleiche Trott, und wir hoffen auf Spannung und Abwechslung. Aber ich stelle einmal mehr fest: Sobald die Normalität in Gefahr ist, will man sie wieder zurück haben. Der Mensch braucht die Normalität, um leben zu können: Das ist meine Erkenntnis nach diesen drei Stunden ohne Elektrisch. Wenn ich das Licht einschalte, muss es brennen.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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