Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Die Boje zerrte und riss, so fest sie nur konnte. © Pixabay

Es war einmal eine kleine rote Boje draussen im Meer, die vom Strand aus kaum zu erkennen war. Nur wer sich ihr schwimmend näherte, sah, dass sie rot war, und nur wer den Mut besass, weiterzuschwimmen, bis er die Boje erreichte, sah, dass ein Seil sie festhielt. Das Seil reichte hinab auf den Meeresgrund, wo es an einem grossen Steinbrocken festgemacht war, so dass die Boje immer am gleichen Ort bleiben musste. Aber das war so gedacht, denn sie musste den Schiffen zeigen, wo das Wasser der Bucht an Tiefe verlor und der Strandbereich anfing. Dies zu signalisieren, war gewissermassen der Sinn der Boje, ihr Lebenssinn, auch wenn es die meisten Menschen wohl etwas merkwürdig finden, von Leben zu sprechen, wenn es um eine Boje geht.

Wäre da nicht das Fischlein gewesen, das um die Boje herumschwamm. Es schien jedesmal dazusein, als würde es bei der Boje leben. Und so rätselten ihre Besucher, was den Fisch wohl dazu bewegte, einer Plastikboje Gesellschaft zu leisten. Würden die Menschen die Sprache der Tiere verstehen, hätte er ihnen erklären können, warum er sich bei der Boje aufhielt. Das kam nämlich so:

Eines Tages war der kleine orangefarbene Fisch das erste Mal an der Boje vorbeigeschwommen. Und weil er ein höflicher Fisch war, sagte er in seiner Fischsprache «Guten Tag». Doch die Boje erwiderte seinen Gruss nicht. Das erstaunte den Fisch. Als er am nächsten Tag wieder an der Boje vorbeikam und sie auf sein freundliches «Guten Morgen» wieder nicht antwortete, ärgerte sich der Fisch, und er fragte die stumme Boje: «Kannst du nicht sprechen?»

Die Angesprochene schüttelte nur den Kopf, und sie schüttelte ihn, weil der Wind die Wellen bewegte und die Wellen die Boje. Doch der Fisch glaubte nun, dass sie Nein gesagt hatte, und er bedauerte das im Wasser schaukelnde rote Ding. Dass sie nicht sprechen konnte, machte ihn traurig, denn wer sich nicht mitteilen konnte, blieb allein, und die Boje war ohnehin schon allein, während  der Fisch jederzeit die Möglichkeit hatte, seine Artgenossen zu treffen.

Die Boje hingegen konnte sich nicht einmal von der Stelle bewegen. Da beschloss der kleine Fisch, nachdem er seiner Wege geschwommen war, die Boje von nun an jeden Tag zu besuchen und eine Weile bei ihr zu bleiben. Die ersten zwei Male, als er vorbeikam und erwartungsvoll um sie herum schwamm, zeigte die Boje allerdings nicht die geringste Regung. Sie schwankte bloss hin und her, so wie jedesmal, wenn der Wellengang stärker war. Da sie auch keine Augen hatte, konnte der kleine Fisch nicht einmal an den Augen erkennen, ob die Boje ihn wahrnahm – ob sie überhaupt etwas fühlte.

Bei seinem dritten Besuch jedoch sah der Fisch überrascht, dass die Boje hin und her wippte. Das tat sie zwar jedesmal – aber diesmal war das Meer spiegelglatt. Da wurde ihm klar: Die kleine rote Boje bewegte sich aus eigener Kraft, und er spürte, sie tat es vor Freude. Beim nächsten Mail, als wieder Windstille herrschte, wippte die Boje erneut auf und ab, ja sie tanzte fast auf dem ruhigen Wasser, und als der Fisch sie hoffnungsvoll fragte: «Freust du dich, dass ich da bin?», tanzte sie gleich noch mehr. Ihr neuer Freund hatte den Eindruck, dass sie am Seil, das sie fesselte, hin und her riss. Sie zerrte und riss, so fest sie nur konnte.

Von da an kam der Fisch noch viel lieber zu ihr, denn er wusste nun, dass die Boje, obwohl sie bloss ein Gegenstand war, ein Kegel aus rotem Plastik, ein Herz besass und dass ihr Plastikherz auch für ihn schlug. Wenn er sie fortan besuchte, trat er es nicht mehr aus Mitleid, sondern weil auch er, der Fisch, für die Boje etwas empfand.

Seine Gefühle für sie fand er zunächst etwas seltsam, und er erzählte den anderen Fischen kein Wort von seiner neuen Bekanntschaft. Sie hätten ihn ausgelacht. Doch er freute sich jeden Morgen auf seinen nächsten Besuch bei der Boje. Er besuchte sie mehrmals täglich, bei Wind und Wetter, bei wildem Seegang genauso wie bei leichtem Wellengeplätscher. Denn er hatte längst keine Zweifel mehr: Die Boje schwankte und wippte und tanzte für ihn, und manchmal – so kam es ihm vor – drehte sie sich sogar um die eigene Achse vor Glück.

Das ist die kleine Geschichte der Freundschaft zwischen dem Fisch und der Boje. Wie sie ausgeht, wissen wir nicht. Doch die Liebe kann Berge versetzen, und eines Tages, wer weiss, wird die Liebe der Boje zu ihrem Freund vielleicht so gewaltig sein, dass sie es schafft, das Seil, an dem sie festgemacht ist, zu zerreissen. Dann ist sie frei, sich von den Wellen treiben zu lassen, hinaus ins offene Meer. Dann ist sie frei, die Welt zu entdecken – weil der kleine orange Fisch an sie glaubte. Weil er in seinem Fischherzen spürte, dass auch eine Boje mehr als nur eine Boje ist.


Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Täglich von Montag bis Freitag - Zu hören auf Facebook, Telegram, Spotify, iTunes und Audible oder auf der Website des Autors www.nicolaslindt.ch

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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