Die süssen Tränen des bitteren Krieges
Bildgewaltig und humorvoll: So geht Patriarchatskritik auch. Die syrische Regisseurin Soudade Kaadan schafft in ihrem mehrfach ausgezeichneten Film «Nezouh» Figuren, die in der Extremsituation Krieg über sich selbst hinauswachsen.
Erst als der Vater ernsthaft überlegt, seine 14-jährige Tochter Zeina mit einem 17-jährigen Frontkämpfer zu verheiraten, bricht Mutter Hala aus.
«Pack deine Sachen», schreit sie ihre Tochter an. Zeina und Hala lassen nicht nur ihre zerbombte Wohnung und Vater Motaz zurück. Sie entkommen auch dessen Befehlsgewalt.
«Es ist das erste Mal», sagt sie verschmitzt zu ihrer Tochter und zündet sich eine Zigarette an, «dass ich nachts ohne deinen Vater aus dem Haus gehe.»
Draussen, das ist Damaskus, die einst schönste Stadt Arabiens, in Trümmern. Seit 2011 herrscht Krieg, der – von den Grossmächten angestachelt – Syrien in Elend und Spaltung gestürzt hat. Im Film «Nezouh» der Syrerin Soudade Kaadan ist der Krieg vor allem eine Folie, auf der sich die grossen Themen wie Flucht und patriarchale Strukturen konstellieren.
Motaz und seine beiden «Mädchen», wie er Hala und Zeina nennt, sind fast die Letzten, die ihre, Quartier trotz des allgegenwärtigen Todes die Stange halten. Sie fliehen selbst dann nicht, als Bomben riesige Löcher in Mauern und Dach reissen. «Es ist nichts», beschwichtigt der Vater Hala und Zeina, «das bisschen Durcheinander werden wir in ein paar Tagen bewältigt haben.»
Malerisch lässt Regisseurin Kaadan die farbigen Laken, die der Vater in Windeseile an die Maueröffnungen hämmert, wehen.
«Wir müssen unsere Frauen und Töchter vor den Blicken beschützen», erklärt er seine Aktion.
Die Ehre steht über allem. Nichts fürchtet der Vater mehr, als Flüchtling zu werden. Nicht mehr in der eigenen, mit aller Kraft erstellten Wohnung zu leben, sondern mit anderen, in Parkhäusern und Camps dahinvegetieren zu müssen. Da bleibt er lieber im zerbombten Damaskus. Und tut so, als ob seine Tränen über das Elend des Krieges nur eine allergische Reaktion wären.
Der Filmtitel Nezouh bedeutet auf Arabisch Exodus und Emigration. Flucht ist nicht die Allheillösung: Das ist die eindrückliche Botschaft dieses Films. Unterstrichen wird sie auch durch die grössere Schwester Zeinas. Sie wurde während des Krieges verheiratet, damit sie aus Damaskus fliehen konnte. Von ihr aber fehlt jede Spur. Flucht, das ist nur der nächste kleine Schritt, von einer Lebensbedrohung zur nächsten. Wie der nächtliche Irrgang von Mutter und Tochter durchs Quartier.
Überhaupt geschieht der grosse Exodus nicht in erster Linie äusserlich. Kaadan (Buch und Regie) veranschaulicht dies an den kleinen Ausflügen Zeinas aufs Dach des zerbombten Hauses. Amer, der Sohn des Nachbarn, lockt sie herauf.
Ausgerüstet wie ein Kriegsvlogger fordert er Zeina auf, über den Krieg zu sprechen. Sie vertraut dem Mikrophon ihren Traum von der kleinen Taube an, die ihr zugeflogen ist und die sie füttert. Zeina und Amer stehen für die neue Generation. Zeina erkämpft von Amer, dass er ihr den Traum, Fischer zu werden, lässt, obwohl dies ein Männerberuf ist.
Flucht, das ist entgegen des in den westlichen Medien oft kolportierten Narrativs, nichts Geplantes, sondern ein zufälliges Stolpern in die nächste Wegbiegung. So steht denn das Leitmotiv Meer nicht in erster Linie für den Fluchtweg in den Westen. Es ist ein Sehnsuchtsort, wo sanfte Wellen und ein leiser Wind die geschundene Seele beleben, so die Vorstellung der Mutter. Oder ein Ort, wie gemacht für Zeinas Fischerrute. Die, sagt sie einmal, mehr fischt, als an der Oberfläche sichtbar ist.
Ohne das Kriegselend zu beschönigen, klagt Kaadars Film weder das Patriarchat noch die Gewalt an. Er verurteilt weder den stolzen Vater noch die sich zunächst beugende Mutter. Durch seine poetisch-starken Bilder und den überall durchschimmernden Humor erhebt er seine Figuren zu Allegorien menschlichen Wachstums.
Kinostart in der Deutschschweiz: 13. April
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