Ein Tiger schleicht sich an
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt
Wir alle haben die Gewohnheit entwickelt, dass wir gelegentlich im Internet surfen, nicht nur, um klüger zu werden, sondern auch zur Entspannung und Unterhaltung. Und da werden uns ganz viele Filme gezeigt – witzige, rührende oder auch unglaubliche Szenen, die vor allem von der Begegnung zwischen Mensch und Tier handeln. Der Mensch ist ja nach wie vor ein fleischfressendes Wesen, aber es zeichnet ihn doch eine grosse Tierliebe aus, und sie kommt in diesen kleinen Filmen zum Ausdruck.
Vor kurzem bin auch ich einmal mehr auf ein solches Tiervideo gestossen – das jedoch eine etwas andere Botschaft enthält. Die Szene: Wir sind im Zoo von Peking, wir befinden uns vor dem Tigergehege, ein junger Mann mit Kinderwagen sitzt mit dem Rücken zu diesem Gehege auf einem Mäuerchen, er ruht sich aus, lutscht gemütlich an einem Cornet – als sich von hinten ein Tiger anschleicht. Der Tiger ist ein prächtiges Exemplar, ein seltener weisser Tiger, er schleicht auf sanften Pfoten heran und weder ein Zaun noch ein Gitter, so scheint es, trennt das sich nähernde Raubtier vor dem seelenruhig da sitzenden jungen Mann.
Mir stockt der Atem, obwohl es doch bloss ein Film ist. Näher und näher schleicht sich der Tiger, er setzt zum Sprung an, jetzt springt er – doch er prallt an der Scheibe ab. Er wird gestoppt durch die bruchfeste Glaswand, die das Gehege umgibt und so transparent ist, dass man sie gar nicht bemerkt.
Die Scheibe erzittert vom heftigen Aufprall, der Zoobesucher blickt hinter sich, doch er wirkt nicht erschrocken. Er schien zu wissen, dass sich der Tiger an Menschen anschleicht, die vor seinem Gehege, hinter der sicheren Scheibe sitzen – er wollte es vielleicht sogar provozieren. Vergnügt, etwas schadenfroh, aber doch eine Spur unsicher grinst der junge Mann in die Kamera.
Wer im weltweiten Netz die drei Stichworte «Peking», «Tiger» und «leichte Beute» eingibt, kann sich die Szene jederzeit ansehen. Es ist eine lustige Szene, sie regt uns zum Lachen an, wir lachen über den dummen Tiger, der doch sicher schon längere Zeit in diesem Gehege lebt und inzwischen gemerkt haben müsste, dass ihn ein seltsames Hindernis daran hindert, die Zoobesucher überfallen und fressen zu können.
Vielleicht verstehe ich keinen Spass – ich jedenfalls fand das Filmchen nicht lustig. Es endet zwar harmlos, weder der Tiger noch der Mensch kommen zu Schaden – aber seelisch geschieht etwas. Wir, die Menschen, fühlen uns den Tieren einmal mehr überlegen. Seht mal her, dieser Tiger, er begreift nicht einmal, dass zwischen uns und ihm eine Glasscheibe ist, die wir Menschen uns ausgedacht haben, damit wir ihn aus nächster Nähe betrachten können, ohne dass er uns etwas tun kann! Ein weiteres Mal erhalten wir die Bestätigung, dass wir klüger sind als die Tiere, dass wir sie jederzeit übertölpeln können. Weil sie die menschliche Fähigkeit nicht besitzen, denken zu können.
Und wie fühlt sich der Tiger? Nach seinem kläglich misslungenen Angriff auf den Menschen vor seinem Gehege fühlt er sich schlecht. In seiner Gefangenschaft fühlt er sich sowieso schlecht. Sein Instinkt geht in dieser Umgebung verloren, da nützt ihm das beste Fressen nichts. Nur ein Bruchteil ist ihm geblieben, ein Überrest seines Jagdtriebs, damit schleicht er sich an, damit springt er um von der Scheibe aufgehalten zu werden.
Wahrscheinlich hat er schon mehrere Male zum Sprung angesetzt – immer vergeblich. Er versteht es nicht, und jedesmal verwirrt es ihn wieder, jedesmal frustriert es ihn wieder, und jedesmal spürt er seinen Raubtierinstinkt etwas weniger.
Der Tiger bekommt sein Fressen, er leidet keinen physischen Mangel, aber sein ganzes Wesen, sein Tigerwesen wird eines Tages gebrochen sein. Wollen wir diesen Triumph des Menschen über das Raubtier? Wollen wir über ihn lachen? – Er ist ein Gottesgeschöpf wie wir, und eigentlich sollten wir denselben Respekt vor ihm haben wie vor unseren Mitmenschen.
In den Medien ist permanent von Diskriminierung die Rede, von diskriminierten Minoritäten, Schwarzen, Transgendermenschen, Migranten, sie alle dürfen mit keiner Silbe verunglimpft oder herabgesetzt werden. Aber es gibt auch eine Diskriminierung der Tiere, einen Rassismus gegen die Tiere, und wenn wir schon jeden Übergriff, jedes falsche Wort gegen Menschen verurteilen, dann müsste man gerechterweise auch solche Videos, solche Spässchen auf Kosten der Tiere kritisieren und zensurieren – weil sie auf harmlos erscheinende Weise unsere menschliche Herrenpose zum Ausdruck bringen, unseren Kolonialismus gegenüber der Tierwelt. Menschen, auch Minderheiten können sich gegen Diskriminierung zur Wehr setzen. Der Tiger in seinem Käfig in Peking kann es nicht.
Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Täglich von Montag bis Freitag - Zu hören auf Facebook, Telegram, Spotify, iTunes und Audible oder auf der Website des Autors www.nicolaslindt.ch
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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