Eine schlimmere Arbeit

Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

© Pixabay

Die letzten Feriengäste waren gegangen, unser Rückzugsort in der Surselva gehörte für die nächste Zeit wieder uns, und Dumeng, ein Arbeiter aus dem Dorf, fuhr mit seinem Pickup vors Haus. Er kam, um den prall gefüllten Kompostbehälter zu leeren. Gerade, als ich hinaustrat, begann er mit seiner Arbeit, wuchtete die Schaufel in den Kompost und schüttete Brocken für Brocken auf seinen Pickup. Ich begrüsste ihn und stand dann etwas unschlüssig da, etwas verlegen auch, weil Dumeng eine Arbeit machte, die nicht sehr angenehm war. «Ich weiss», sagte ich, fast entschuldigend zu ihm, «nicht gerade die schönste Arbeit.»

«Es gibt Schlimmeres», fand Dumeng und lachte, und an der Art, wie er das sagte, erriet ich, dass ich ihn fragen sollte, welche Arbeit denn noch schlimmer sei. «Vor kurzem», erzählte er, «mussten wir im Nachbardorf ein grösseres Erdstück in einem Friedhof ausheben. Aber die Erde war so beschaffen, dass die darin begrabenen Leichen noch nicht verwest waren.» Ich schaute ihn leicht entsetzt an, und vor meinem Auge begann ein Bild zu entstehen. Ein ziemlich schaudervolles Bild. «Das heisst, ihr habt … », fragte ich zögernd, und Dumeng beendete meinen Satz: «Das heisst, dass die Toten noch keine Skelette waren. Da war noch mehr dran.»

«Und dann habt ihr weitergegraben?» Ich war bereits etwas neugierig. «Was blieb uns anderes übrig», meinte er achselzuckend, «wo wir doch schon begonnen hatten. Aber der Kollege musste nachher nach Hause und kam am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Der hat es nicht verkraftet. Oder man könnte auch sagen, sein Magen streikte.»

«Und du?», wollte ich von Dumeng wissen. «Viel geschlafen habe ich nicht in der folgenden Nacht. Die Bilder kamen und gingen.» Jetzt wusste ich, dass es schlimmere Arbeiten gibt als einen Kompostbehälter zu leeren. «Aber eigentlich ist es ja komisch», sinnierte der Bündner. «Die gleichen Leute, die so etwas nicht aushalten würden, kaufen im Laden ein Poulet und essen es sogar noch. Ich meine, was ist ein totes Huhn anderes? Ist auch ein Leichnam, mit Haut über den Knochen. Aber das stört die Leute dann nicht.»

Nach diesen Worten stiess er die Schaufel wieder kräftig in den Kompost. Ich schaute ihm zu und dachte: Dumeng ist vermutlich kein Vegetarier. Aber einer, der sich Gedanken macht.

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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Kommentare

Einst einmal.....

von Walter Roth
Einst einmal..... waren die Menschen sowas viel mehr gewohnt. Als ich als Kind meinem Vater zusah, wie er Hühner schlachtete, fand ich das sehr interessant, denn es kamen die Eidotter im Bauch zum Vorschein, noch ohne Schale....... Ich fragte Vater dann immer, warum hast du die nicht noch am Leben gelassen, die hätte noch 5 Eier gelegt. Niemand isst heute noch solche Hühner. Die könnte man gar nirgends mehr zu kaufen. Wo sieht man noch Suppenhühner? Mein Grossvater hatte einmal eine Totgeburt..... kein Mensch, sondern ein Kalb. Kaum war es gezogen, war es tot und er vergrub es am Waldrand. Am Abend ging er nochmals am Waldrand vorbei und die Grube war wieder offen...... Irgend jemand hatte ihn gesehen und hernach das Kalb ausgegraben....... um es zu essen. Der fand es schade um das Kalb...... Aber im selben Atemzug erwähnte Grossvater auch immer, das man in den Jahren 14 - 18 Katzen und Hunde Junge bekommen liess, so viel sie konnten, denn auch die konnte man Essen. Ass man sie nicht, kochte man alles im Waschherd und verfütterte es den Schweinen Wäääähhh............ Es ist nicht giftig, sagte er dann immer zu mir..... es ist nicht giftig. In den 70-igern, als ich als Kind jene berühmte Kassensturzsendung über Ravioli sah....... Wäh..... Grossvater meinte bloss, ..."es ist nicht giftig". Aber er hat damals das Kalb nicht verkocht, er vergrub es lieber.....(((-: