Heute anders #4: «Jetzt erlaube ich mir alles»

Zeitpunkt-Leserin Heike Wentland will nicht mehr tun, was die Gesellschaft erwartet. In der Coronakrise hat sie begonnen, alles zu tun, was sie schon immer wollte. Sie hat Schürzen genäht und verschenkt, das Haus mit Musik gefüllt und nicht zuletzt ein Neujahr-Ritual durchgeführt.

© Dirk Maybaum

Dinge «heute anders» zu machen, ist eine wunderbare Anregung. Man könnte es auch «raus aus der Routine» nennen – diese lässt uns nämlich zu Robotern werden, und das wollen wir ja nicht.

Gleich zu Beginn der Coronakrise hatte ich einen Fahrradunfall. Dies hat mich völlig aus dem normalen Leben herausgeschleudert. Als es mir wieder besserging, habe ich mir vorgenommen, mir von jetzt an alles zu erlauben. Alles zu tun, was ich schon immer tun wollte, und auch das, was mir noch Neues einfallen würde.

Als erstes lud ich Menschen ein, die ich mochte. Zu einer Feier, zu der jeder das mitbringen sollte, was er zurzeit gern ass. Wir sangen, machten Spiele und waren ausgelassen wie Kinder. Das mitgebrachte Essen war derart köstlich, dass Leib und Seele in Hochstimmung versetzt wurden. Ein paar Wochen später hatte ich Lust auf ein Treffen mit Musikern. Wir luden sie zu uns nach Hause ein und machten wieder eine kleine Feier des Lebens daraus, mit neuen Menschen, die wir mochten.

Zum Jahresende kam die Idee auf, ein «Neue-Zeit-Ritual» durchzuführen. Wir haben Menschen zusammengetrommelt, die Lust hatten, Unbrauchbares hinter sich zu lassen und mit offenen Armen in offene Arme zu laufen, beim Übergang in eine Neue Zeit. Dazu gestalteten wir mit wenigen Symbolen einen Durchgang, eine Art Tor, auf dessen anderer Seite alle mit offenen Armen standen. Dieses Gefühl war überwältigend. Eine Erfahrung, die tiefging und uns vieles bewusst gemacht hat.

Zum Ende des Winters hatte ich den Impuls, meine Nähmaschine rauszuholen und etwas zu erschaffen. Aus wunderschönen Stoffen nähte ich Schürzen. Diese Arbeit bereitete mir so viel Freude, dass daraus fast zwanzig bunte Schürzen für Gross und Klein wurden. Ich habe sie verschenkt, denn ich wollte Menschen eine Freude machen – und daraus wurde ein richtiges Freudenfieber! Am Schluss hatte ich das Gefühl, dass ich mehr zurückbekommen habe, als ich gegeben hatte. Ich will in meinem Leben keiner Routine mehr Platz geben, sondern aufwachen und jeden Moment bewusst aufnehmen. Wenn ich etwas erschaffe, dann gibt es keine Krise mehr, sondern nur noch Freude und dieses Gefühl, bei mir selbst zu sein.

Von Beruf bin ich Ärztin. In meiner Arbeit bin ich noch deutlicher geworden als früher und sage, wenn auch schonend, nur noch was ich wirklich denke. Ich habe keine Angst mehr. Ich lebe, was ich leben will, auch in meiner Arbeit. Einige Patienten haben sich von mir getrennt. Aber was soll ich sagen? Dafür sind neue Menschen gekommen, mit denen ich Gespräche führe, die so tiefgehen und so klärend sind, dass mir meine sowieso schon liebe Arbeit noch viel lieber geworden ist.

Krisen sind Chancen. Sie geben uns die Möglichkeit, zu überdenken, was und wie wir leben, und mutig und lebendig zu werden, um Neues zu probieren. Zwischendurch kommen die Gedanken an die Krise zurück. Dann lasse ich das Gefühl der Traurigkeit zu. Es ist ein ganz reines Gefühl, und wenn ich es vollständig zugelassen habe, erschöpft es sich von selbst.

Ich mache mir diese Zeit zur intensivsten Zeit meines bisherigen Lebens, und es hat sich so etwas wie ein gesunder Lebenshunger in mir ausgebreitet. Diesen stille ich in aller Ruhe und Beschaulichkeit Tag für Tag.