Ich weigere mich, eine Maus zu sein …
Sollen Regeln unser Leben bestimmen, oder gibt es hilfreichere Wegweiser? Wer masst sich an, uns vorzuschreiben, was die richtige Art zu leben ist? Was können wir tun, wenn die ganze Gesellschaft auf Irrwege gerät und der Verstand die Vernunft verloren hat? Kolumne.
Als Kind kamen mir einige Geschichten merkwürdig vor, obwohl ich meinte, dass ich sie doch mögen müsste. Schliesslich hatten Erwachsene sie für Kinder geschrieben und mussten sich etwas Gescheites dabei gedacht haben. Doch auch nach mehrmaligem Lesen erschloss sich mir der Sinn nicht.
Eine dieser Geschichten war «Alice hinter den Spiegeln» von Lewis Carroll. Heute, als erwachsene Frau, fühle ich mich oft wie die kleine Alice, die in eine bizarre Welt geraten ist. Ungläubig irre ich umher, frage mich, ob ich ver-rückt geworden bin oder die ganze Gesellschaft. Da werden Leute angefeindet, die sich für Frieden engagieren; Gruppierungen, die früher gegen AKWs protestiert haben, wollen diese nun plötzlich fördern, und andere, die gegen Krieg demonstrierten, fordern nun noch mehr Waffen für Kriegsgebiete. Sogar Kirchen, die das Wort Jesu verkünden, das eigentlich für wahre Liebe, Toleranz, Mitgefühl und Gewaltlosigkeit steht, segnen Waffen, die Menschen töten. Auch mit dem Gottvertrauen hapert es, seit die Angst vor Krankheit und Tod viele Menschen daran hindert, überhaupt erst zu leben anzufangen.
Unterwegs begegne ich vielen Menschen, die unglücklich und einsam wirken. Früher konnte ich sie durch ein freundliches Lächeln erreichen; heute weichen sie meinem Blick aus, wirken gefangen in einem Kokon der Angst.
Kürzlich kam mir eine junge Frau strahlend entgegen. Irritiert suchte ich den Grund für ihr Lachen – vielleicht war sie am Handy oder kannte einen Passanten? – doch als nichts davon zutraf, fiel mir auf, wie absurd mein Erstaunen über etwas im Grunde Normales war. Der Psychiater Manfred Lütz schrieb treffend in seinem Buch «Irre! Wir behandeln die Falschen»:
«Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmässig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreissende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!»
Diese sogenannten Normalen scheinen sich gegenseitig an Verrücktheiten zu überbieten: Da werden immer noch schrecklichere Krankheitserreger definiert, deren Namen einem Science-Fiktion-Film entstammen könnten; bis anhin klare Werte werden so durcheinandergerüttelt, dass verunsicherte Menschen an ihrer Geschlechtsidentität zweifeln; und es wird an künstlicher Intelligenz herumgetüftelt, im Bestreben, den Menschen durch perfekte Maschinen zu überbieten. Man glaubt, die Natur verbessern zu müssen, vergiftet die Umwelt und setzt der Nahrung immer mehr künstliche, teils schädliche Stoffe zu.
Auf der anderen Seite werden in aller Hektik neue Wohn- und Lebensformen gegründet, eigene Lebensmittel hergestellt, alternative therapeutische Behandlungsmethoden und spirituelle Gruppierungen buhlen um die Wette … Ein grosses Katz- und Mausspiel: Die Katzen zwingen den Mäusen ihre Produkte, Lebensweisen und Werte auf, letztere gehen in die Defensive und erfinden das Leben immer wieder neu.
Ich weigere mich, eine Maus zu sein! Ich steige aus diesem Katz-und-Maus-Spiel aus. Ich habe es satt, immer wieder zu reagieren, will einfach nur in Frieden und selbstbestimmt leben. Die Zeit ist kurz und zu wertvoll für Sandkastenspiele, bei denen es um Streit, Geschrei, Kränkung und Rechthabereien geht und wo Eitelkeit dominiert.
Der persische Mystiker Rumi sagte: «Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.» An diesem Ort erleben Menschen eine gemeinsame Identität, das reine «Sein» wird wesentlich, Meinungen und materieller Besitz werden unwichtig. Diesen Ort finden wir, wenn wir selbstvergessen im Flow einer Tätigkeit aufgehen, sei dies Arbeit, Sport, Tanz, Kreativität oder Meditation. Wenn Menschen gemeinsam in diesen Ort der Stille eintauchen, entsteht innere «Zu-Frieden-heit» und eine tiefe gemeinsame Verbundenheit, die Meinungsgräben zu überwinden vermag.
Nicht Angst, Wut oder Hilflosigkeit sollten unser Handeln bestimmen, sondern die ehrliche Wahrnehmung, was uns gut tut, uns aufblühen und innerlich wachsen lässt. So erübrigen sich Vorgaben, wie das «richtige» Leben auszusehen hat. Der Yaqui-Indianer Don Juan Matus in Carlos Castanedas Buch «Lehren des Don Juan» fragt sich vor Entscheidungen:
«Ist dieser Weg ein Weg mit Herz? … Wenn er es ist, ist der Weg gut; wenn er es nicht ist, ist er nutzlos. Beide Wege führen nirgendwo hin, aber einer ist der des Herzens, und der andere ist es nicht. Auf einem ist die Reise voller Freude, und solange du ihm folgst, bist du eins mit ihm. Der andere wird dich dein Leben verfluchen lassen. Der eine macht dich stark, der andere schwächt dich.»
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