3 Fragen an Psychotherapeutin Katrin Meier

Gibt es überhaupt das sogenannte Januarloch und die dazugehörende Januarsdepression? Oder bilden wir uns das nur ein? Katrin Meier aus Bern verneint deren Existenz nicht. Aber: Sie sieht diese ruhigeren Wochen am Anfang des Jahres als eine wichtige Zeit an, in der man in sich kehren kann. Die Psychotherapeutin empfiehlt sogar, regelmässig Auszeiten oder ein «Januarloch» durchs Jahr hindurch einzuplanen, um nach Innen zu hören. Das würde helfen, so die 47-Jährige, die Festtage im Dezember, die nicht selten mit vielen Erwartungen verknüpft sind, entspannter anzugehen – und somit dann auch den Januar.

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Zeitpunkt: Nun, gibt es das Januarloch?

Katrin Meier: Von einem Loch würde ich nicht sprechen, eher von einer ruhigen Zeit, die im Kontrast zu den festlichen Aktivitäten steht. Man hat Zeit und Raum, sich nach innen zu wenden oder ist gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Depressionen oder depressive Verstimmungen können somit sichtbar werden oder auch auftreten, weil der Wechsel oder Umbruch in eine ruhige Zeit zur Belastung werden kann. Von Einbildung würde ich also nicht sprechen.

Beim Jahreswechsel kann schon einiges hochkommen, das lange zurückgehalten wurde.

Was mit den Menschen nach Weihnacht und Neujahr geschieht? Nun, das Weihnachtsfest verkommt nicht selten zu einem materialistischen Fest, das emotional aufgeladen wird. Daher ist die Weihnachtszeit für nicht wenige Menschen anstrengend oder sogar belastend. Selten werden Wünsche und Sehnsüchte nach Zugehörigkeit und Harmonie erfüllt. Die Spannung entlädt sich, es gibt Enttäuschungen, und Ernüchterung bleibt zurück. Ich kenne viele Menschen, die froh sind, wenn diese Tage vorbei sind. Und zu guter Letzt steht noch der Jahreswechsel vor der Türe. Eine Zeit, um zurückzublicken, innezuhalten, über die Bücher zu gehen und sich Vorsätze fürs neue Jahr zu nehmen. Da kann schon einiges hochkommen, das lange zurückgehalten wurde.

Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, immer wieder nach innen zu schauen und zu horchen. Denn dort finden wir Antworten auf unsere Fragen, aber auch Zugang zu unseren Selbstheilungskräften. Leider beobachte ich nicht selten, dass viele Menschen verlernt haben, sich um sich zu kümmern, auf sich zu hören und eigenverantwortlich mit ihren Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen umzugehen.

Ich glaube es ist wichtig, dass wir immer mal wieder aus unserer Bequemlichkeit, aus unserer Komfortzone heraustreten. Nur so können wir uns weiterentwickeln. Das ist manchmal anstrengend und bedrohlich, doch gleichzeitig fühlt es sich lebendig und stimmig an. Ich kann allen Menschen empfehlen, sich durchs Jahr hindurch regelmässig Auszeiten zu nehmen, in sich zu gehen, nach innen zu hören, sich Fragen zu stellen wie «Welchen Weg gehe ich?», «Was macht Sinn?», «Wie soll es weiter gehen?», «Was sind meine Werte?». So begegnen wir Weihnachten und Neujahr vielleicht etwas ruhiger, gelassener und mit weniger Erwartungen und können etwas konstruktiver mit dem Januarloch umgehen.

Seit Ausbruch der Pandemie geht es vielen Menschen emotional und psychisch schlechter. Womit hat das zu tun?

Für mich ist offensichtlich, dass die durch die Medien täglich vermittelte Angst nicht förderlich ist für unsere Stimmung und unser Immunsystem. Besonders besorgniserregend ist auch die Spaltung unserer Gesellschaft, die ein Ausmass annimmt, das nicht mehr zu übersehen ist und Schaden anrichtet. Die Spaltung hinterlässt Spuren in unserem psychischen Wohlbefinden. Es nimmt uns das weg, wonach wir alle streben: die Verbundenheit. Verbundenheit mit anderen Menschen, mit Freunden und Freundinnen, mit Verwandten und der Familie, mit den Arbeitskollegen und Nachbarn und schlussendlich auch mit uns selbst. Wenn uns Angst gemacht wir, wenn wir zu Hause bleiben müssen, isoliert werden, wenn uns eingetrichtert wird, wie gefährlich wir füreinander sind, dann kommen wir in einen existentiellen Stresszustand. Unser Körper kommt in den Überlebensmodus und stellt sich auf Kampf oder Flucht ein. Es stellt sich eine Art Ohnmachtszustand ein, verbunden mit dem Gefühl, dem Geschehen ausgeliefert zu sein und nichts zur Veränderung beitragen zu können. Dieser Zustand kann man in gewisser Weise auch mit dem Zustand einer Depression vergleichen.

Wird sich das nun diesen Januar nicht noch verstärken? Und zu 2022: Wir wünschen uns Lichtblicke! Werden Sie kommen?

Wir verzeichnen schon länger viele Therapieanfragen, denen wir nicht mehr gerecht werden können. Es ist bedenklich, dass bei der Massnahmenplanung der psychischen Gesundheit so wenig Wert beigemessen wird. Die Pandemie, die Massnahmen und die zunehmende Spaltung zehren immer mehr an den Nerven der Menschen. Für mich wäre es nicht überraschend, wenn die psychische Belastung bei vielen Menschen in nächster Zeit nochmals steigt.

«Es hat noch nie Frieden gegeben, indem man Schuldige definiert.»

Für mich gibt es Lichtblicke und ich bin überzeugt, dass sie sich auch deutlicher zeigen werden. Es liegt in unseren Händen, was wir aus dieser tiefen, gesellschaftlichen Krise lernen, wie wir in Zukunft miteinander umgehen und das weitere Leben gestalten werden. Auch wenn wir die Situation unterschiedlich einschätzen, sind wir doch letztlich alle voneinander abhängig. Es hat noch nie Frieden gegeben, indem man Schuldige definiert und eine Gesellschaft spaltet.

Ich glaube, die Menschen werden zunehmend erkennen, worum es im Kern geht. Für mich heisst das, dass wir unsere Werte überdenken, respektvoll, verantwortungsvoll, gemeinschaftlich und mit einer gewissen Demut aufeinander zugehen. Es wäre wichtig, dass wir uns füreinander interessieren, einander zuhören und die unterschiedlichen Sichtweisen und Wirklichkeitskonstruktionen gemeinsam integrieren.

Schaffen wir uns Räume oder eben auch Januar-Löcher das ganze Jahr hindurch, um eine Reise zu uns selbst zu machen. Wenn wir in Verbindung mit uns selbst gehen, schaffen wir gleichzeitig eine Verbindung zu anderen Menschen. Wenn wir beginnen auf Menschen zuzugehen und Kontakte zu pflegen, schaffen wir ein Netz, das uns in Krisen auffangen und halten wird.