Ich bin Philosoph. Das geht so: Man mischt sich unter die Leute und versucht, Dinge zu sagen, die wahr sind und weh tun.

Beispiel: Eine Freundin erzählt beim Apéro von ihren Ferienplänen (zwei Wochen Chile), der Philosoph sagt: Fliegen ist schlecht fürs Klima. Der Gastgeber ruft zu Tisch, er hat den ganzen Tag in der Küche gestanden (glasierte Rinderschulter), der Philosoph sagt: Fleisch ist schlecht fürs Klima. Eine Stunde später, die Stimmung ist gelöst, die Gespräche plätschern fröhlich, fragt der Gastgeber: Warum bist du so still? Der Philosoph sagt: Die Wahrheit ist schlecht fürs Klima.

Die Wahrheit ist auch schlecht für Pointen. Dieses Beispiel ist so nie passiert. Mich lädt niemand zum Essen ein. Und sollte es doch einmal passieren, würde ich nicht zulassen, dass eine gelöste Stimmung aufkommt. «Fleisch ist schlecht fürs Klima» wäre nur das Amuse-Bouche. Zur Vorspeise gäbe es Argumente, zum Hauptgang Fakten, zum Dessert betretenes Schweigen.   

Der Philosoph als Tugendterrorist. Wieder habe ich die Wahrheit dem Witz geopfert. Diese Karikatur überzeichnet, was ich im echten Leben lieber mit Humor kaschiere: Ich meine es ernst, wenn ich unangenehme Wahrheiten auftische. Ich möchte damit zwei Dinge erreichen: erstens eine aufrichtige Diskussion darüber, was wir denn nun tun sollten angesichts dieser Wahrheiten, und zweitens, dass wir es dann auch wirklich tun.

Die meisten Leute möchten lieber einen angenehmen Abend verbringen. Macht nichts. Es ist gar nicht nötig, dass irgendjemand diese Diskussion wirklich führt. Als Philosoph habe ich lange genug darüber nachgedacht und kann das Ergebnis vorwegnehmen: Wir sollten (u.a.) sofort und radikal aufhören, herumzufliegen und Tierprodukte zu essen. Es geht eigentlich nur noch darum, das jetzt umzusetzen.

Der Philosoph als Besserwisser. Der wahre Kern dieser Karikatur: Ich weiss es wirklich besser. Was die Karikatur falsch darstellt: Ich bin nicht durch blosses Nachdenken darauf gekommen. Ich habe zehntausende Seiten wissenschaftliche und philosophische Arbeiten gelesen und mit hunderten Menschen tausende Stunden über diese Fragen diskutiert. Anfänglich verteidigte ich Flugreisen und Tierproduktekonsum noch, mit der Zeit musste ich mich der Kraft der besseren Argumente beugen. Und seither lebe ich vegan und fliege nicht mehr.

Der Philosoph als Vorbild. Auch ihn gibt es in der Realität nicht, oder nur annäherungsweise. Ich bezeichne mich seit 2009 als Veganer und trete als solcher auch immer wieder in der Öffentlichkeit auf, aber vorgestern habe ich eine Mozartkugel gegessen, von der ich wusste, das sie Kuhmilch enthält. Noch beschämender: Seit 2010 setze ich mich als Aktivist für die Rechte der Tiere ein, aber heute, als ich allein am Schreibtisch sass, habe ich einer Fliege etwas zuleide getan, nur weil mich ihr Surren nervte.

Der Philosoph als Heuchler. Das ist jetzt leider keine Karikatur, das bin ich im echten Leben. Die Gesichte mit der Fliege stimmt so trotzdem nicht. Ich habe versucht, sie zu packen, zu klatschen, mit dem Finger wegzuspicken – sie ist mir immer entwischt. Ich kann keiner Fliege etwas zuleide tun, aber nicht, weil ich meine ethischen Ideale verinnerlicht hätte, sondern, weil diese verdammten Fliegen zu schnell sind für mich.

Die Fliege surrt noch immer herum, völlig unbeschadet, und die Mozartkugel – ich habe sogar nur die Hälfte davon gegessen. (Ja, sie war fein, aber Nirwana Vegan von Rapunzel ist feiner. Sorry, Salzburg.) Ethisch geht es hier fast um nichts, die negativen Folgen sind vernachlässigbar. Trotzdem haben mich diese Geständnisse Überwindung gekostet. Sie kratzen mein Selbstbild an. Aber wirklich weh getan habe ich mir mit meiner Aufrichtigkeit bis jetzt nicht. Um dem Titel gerecht zu werden, muss ich weiter gehen.

Vor vier Jahren flogen hunderte Leute nach Valencia, um sich darüber auszutauschen, was gegen den Klimawandel unternommen werden könnte. Der Anlass: eine Konferenz für Klima-Startups. Ich war auch dabei. Ich war auch mit dem Flugzeug angereist. Wie gesagt: Ich weiss es eigentlich besser. Trotzdem bin ich den letzten Jahren öfter geflogen als je zuvor. So schädlich Flugreisen sind: Sie tun einfach zu wenig weh. Aber das kann man ändern. Das kann man ganz leicht ändern – indem man philosophische Dinge sagt.

Voilà: Von jetzt an reise ich nie mehr mit dem Flugzeug. Wenn ich’s doch tue, zahle ich 10 000 Franken an die erste Person, die mich dafür öffentlich an den Pranger stellt. – So, jetzt tut’s weh. Danke, Philosophie!
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Sebastian Leugger ist der Philosoph vom Dienst beim Zeitpunkt.