Am 12. Dezember, dem int. Tag der Neutralität hat die Schweiz nicht nur entgegen dem Auftrag der UNO geschwiegen. Der Bundesrat hat auch die «sicherheitspolitische Strategie der Schweiz 2026» in die Vernehmlassung geschickt. Sie fordert die weitgehende Integration in Kriegsbündnisse bis hin zur Teilnahme an sog. Artikel-fünf-Übungen der Nato.
Obwohl erst ein Entwurf, hat der Bundesrat die «verzuglose Umsetzung» beschlossen. Wenn das Papier Ende 2026 in die Räte kommt, werden bereits genügend Fakten geschaffen sein, die eine Korrektur des eingeschlagenen Wegs verunmöglichen. Die Strategie ist auch eine grosse Hypothek für die Abstimmung zur Neutralitätsinitiative, die vermutlich im Herbst 2026 stattfindet.
Das 60-seitige Papier geht davon aus, dass Russland die EU und die Nato aktiv bedroht und dass sich 2028 für «Europa» ein ungünstiges Zeitfenster öffnet, von dem auch die Schweiz betroffen sein könnte. Ein russischer Angriff auf die Schweiz wird zwar als unwahrscheinlich bezeichnet, aber sämtliche geplanten Massnahmen der Strategie richten sich gegen einen solchen Angriff.
Ein Beitrag der Schweiz zur Deeskalation und zur Diplomatie kommt tatsächlich nur in einer Fussnote vor (S. 47). Der Bericht erwähnt einzig, «Versuche, den Konflikt auf diplomatischem Weg einzudämmen, [seien] bisher erfolglos geblieben». Welche Akteure die Bemühungen um ein Ende des Krieges zunichte gemacht haben, wird nicht erwähnt. Ebenso unerwähnt bleibt der Umstand, dass sich führende Exponenten der EU und der Nato bereits in einem Krieg mit Russland sehen, stellvertretend geführt von der Ukraine, und entsprechend handeln.
Dass eine russische Offensive gegen die Nato und die EU aufgrund der bestehenden militärischen, wirtschaftlichen und demographischen Kräfteverhältnisse zum Scheitern verurteilt ist und daher faktisch ausgeschlossen werden kann, wird im Bericht nicht erwähnt.
Die Neutralität als Voraussetzung, nicht in die Kriege Dritter verwickelt zu werden, wird mit keinem Wort erwähnt. Das Papier stellt die Neutralität nicht als Wesenskern der Schweizerischen Eidgenossenschaft dar, sondern als «sicherheits- und aussenpolitisches Instrument», das «stets den aktuellen Herausforderungen entsprechend weiterentwickelt» wurde (S. 9) und folglich auch jetzt angepasst werden kann und muss.
Zur Begründung der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit internationalen Partnern betreibt das Papier auch Geschichtsklitterung:
Im Unterschied zur früheren Gesamtverteidigung, die die Sicherheitspolitik der Schweiz im Kalten Krieg prägte, gehört zur umfassenden Sicherheit auch die internationale Zusammenarbeit, weil die meisten Bedrohungen grenzüberschreitend sind.
Die Bedrohungen während des Kalten Krieges waren mit der Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland und Italien eindeutig stärker grenzüberschreitend und hätten bei ihrem Einsatz auch auf die Schweiz gewirkt. Trotzdem stand die Schweiz zur Neutralität.
Die internationalen Kooperationen, die sich die Autoren angesichts der dargestellten Bedrohungen durch Russland wünschen, sind absolut vielfältig. Sie reichen von gemeinsamen Übungen, koordinierter Beschaffung, Informationsaustausch bis hin zur Beschaffung von Offensivwaffen, die über unsere Landesgrenzen wirken. Ein paar Stichworte dazu: «Individually Tailored Partnership Programme» der Nato, Kooperation mit der Europäischen Verteidigungsangentur, gemeinsame europäische Verteidigungsprojekte (PESCO) oder «Framework Nations Concept» der Nato (S. 58).
Sogar die Beteiligung an den sog. Artikel-fünf-Übungen der Nato, bei denen die Beistandspflicht geübt wird, werden als neutralitätskonform dargestellt, «da die Schweiz dabei kein Bündnismitglied simuliert, sondern ihre reale Rolle als Partnerin ausübt». «Partnerin» in einem Krieg – das kann doch nur bedeuten, dass die Schweiz Partei ergreift.
Unter welchen Bedingungen wird dies der Fall sein? «Die für die Anwendung der Neutralität entscheidende Frage, wann ein Land angegriffen ist, ist mit der hybriden Konfliktführung indes schwieriger geworden.» (S. 26) Im Zeitalter hybrider Waffen, könne man aber nicht mehr klar sagen, wann ein «bewaffneter Angriff» vorliege.
2016 war der Bundesrat noch der Ansicht, dass ein solcher Angriff erst vorliegt, «wenn es sich um eine konkrete, gegen die territoriale Integrität, die gesamte Bevölkerung oder die Ausübung der Staatsgewalt gerichtete, zeitlich anhaltende, landesweite und intensive Bedrohung handelt, die nur mit militärischen Mitteln bekämpft werden kann.»
2025 schreibt der Bundesrat:
Im Vordergrund steht weniger die zeitliche und räumliche Ausdehnung der Bedrohung als vielmehr auch das Ausmass des Schadens. Wegen der digitalen Vernetzung von Systemen und kritischen Infrastrukturen können auch räumlich und zeitlich begrenzte Angriffe hohen Schaden anrichten. Angesichts der immer vielfältigeren Angriffsmöglichkeiten und der geringeren Unterscheidbarkeit zwischen Frieden und Konflikt sind starre oder exakte Kriterien weiter nicht zielführend.
Die Frage, ob ein Angriff vorliegt oder nicht, ist aber fundamental, denn: «Wenn ein bewaffneter Angriff gegen die Schweiz vorliegt, gilt das Neutralitätsrecht nicht.» (S. 35). Es dünkt einem fast, der Bundesrat freue sich auf den Moment, an dem er sich vom Restbestand der Neutralität befreien kann. Gleichzeitig lehnt er es ab, Kriterien zu formulieren, gewissermassen die roten Linien der Schweiz zu benennen, über die man öffentlich diskutieren könnte.
Der Bundesrat reisst damit die absolut entscheidende Frage zwischen Krieg und Frieden an sich. Die Entscheidung ist staatsrechtlich übrigens nur unpräzise geregelt. Die einzige Bestimmung: Der Bundesrat kann 4000 Soldaten aufbieten. Wenn es mehr braucht, entscheidet die Bundesversammlung.
Die sicherheitspolitische Strategie sieht die Schweiz fest im Lager der westlichen Kriegsparteien, mit denen im Dienste der eigenen Sicherheit die Kooperation auf vielfältigste Art ausgebaut werden muss.
Natürlich enthält das Papier auch ein paar Lippenbekenntnisse zur traditionellen Rolle der Schweiz als neutrale Vermittlerin:
Die Schweiz kann ihre sicherheitspolitischen Interessen am besten in einer Welt wahren, in der Macht durch Recht begrenzt wird. Ihre Beiträge zu Frieden und Stabilität, zur nachhaltigen Entwicklung und zum Völkerrecht sind weiterhin gefragt. Ihr Einsatz gilt dem Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt in internationalen Beziehungen gemäss UNO-Charta, der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten, den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht. (S. 25)
Aber ihre Taten bleiben meilenweit hinter den Worten zurück. Und wenn der Einsatz für das Völkerrecht aus Sicht des Bundesrates tatsächlich der beste Weg zur Wahrung der sicherheitspolitischen Interessen wäre, dann müsste das im Zentrum der Strategie stehen oder ihm mindestens ein eigenes Kapital mit konkreten Massnahmen gewidmet werden.
Das Papier listet insgesamt zehn Ziele und über 40 Massnahmen, darunter auch einige, die die Grundlage der Demokratie, die freie Meinungsäusserung, in Frage stellen. Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation werden wiederholt als Bedrohungen dargestellt, die nicht nur Russland zugeschrieben werden, sondern auch von innen durch «radikalisierte Individuen» erfolgen können.
Professionell betriebene Desinformation gehört seit dem Ersten Weltkrieg zu den Grundlagen der Kriegsvorbereitung. Und es besteht kein Zweifel, dass sich alle Seiten dieser Mittel bedienen. Erwähnt wird in der Strategie jedoch nur Russland. Mit der «Operation Mockingbird», bei der amerikanische Geheimdienste ihre Leute in den Redaktionen wichtiger Medien platzierten und mit der Informationsarbeit der «Atlantikbrücke» sind solche Aktivitäten auch durch westliche Mächte belegt.
Mit Inkrafttreten des revidierten Nachrichtendienstgesetzes auf Anfang 2027 dürften eine ganz Reihe von Gruppen, Individuen und Medien, die sich für Neutralität und Diplomatie und gegen die Einbindung in Kriegsbündnisse einsetzen, unter das Radar der einheimischen Nachrichtendienste geraten.
Die aktuelle Sanktionierung des ehemaligen Schweizer Geheimdienstoffiziers Jacques Baud durch die EU zeigt, in welche Richtung es geht. Baud, Autor von vier Büchern über den Ukraine-Konflikt, wird vom EU-Ministerrat unterstellt, er setze Massnahmen der hybriden Kriegsführung Russlands um oder unterstütze diese. Nach seiner Darstellung geht es ihm darum, zu zeigen, dass wir über den Konflikt schlecht informiert seien. Er selber verwendet in seiner Arbeit zu mehr als drei Viertel US-amerikanische und ukrainische Quellen.
Der Zeitpunkt der Vorstellung der sicherheitspolitischen Strategie 2026 durch Bundesrat Pfister und seine Leute sagt alles: Freitag, 12. Dezember 14.30 Uhr. Wer den Medien um diese Zeit einen Stoff vorstellt, will eine seriöse Diskussion verhindern. Kein Journalist hat Zeit, nach der Medienkonferenz noch das 60-seitige Papier zu lesen, zu analysieren, einen vernünftigen Artikel zu schreiben und ihn abends abzuliefern.
Und so war es auch: Die reduzierte Beschaffung der F-35-Kampfflugzeuge erhielt die Schlagzeilen am Samstag. Die Sicherheitsstrategie, die die Schweiz auf Jahre prägen wird, blieb aussen vor Und am Montag war die Sache bereits gegessen.
Was bedeutet das für Menschen wie mich, die die Neutralität als Voraussetzung für den Frieden betrachten und mit grösster Sorge auf ihre fortschreitende Demontage und die wachsende Kriegstreiberei schauen?
Meines Wissens hat bis jetzt keine Partei und keine politische Gruppierung, die sich für die Grundwerte der Schweiz einsetzt, auf das brisante Papier reagiert. Gut, die Vernehmlassungsfrist läuft noch bis Ende März nächsten Jahres. Aber die Strategie ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Neutralität und der Schweiz als Ganzes – und sie sofort umgesetzt. Sie müsste, wenn nicht einen Aufschrei, ganz sicher eine breite Diskussion auslösen. Immerhin geht es um Krieg und Frieden.
Die mediale Macht des Militärdepartements VBS ist überwältigend. 106 Vollzeitstellen beschäftigen sich mit Information und Kommunikation, ein Mehrfaches der Handvoll Bundeshausjournalisten der noch bestehenden vier grossen Verlage und der SRG, die ohnehin relativ unkritisch berichten. Diesen 106 mit Propaganda beauftragten Mitarbeitern stehen ein paar Medienleute in den Parteien gegenüber und einer unbekannten Zahl von Aktivisten in kleineren Gruppierungen, die neben ihrem Broterwerb noch die Neutralität zu verteidigen versuchen.
Das Ungleichgewicht ist erschütternd. Hier ein gut geölter, bestens finanzierte und vernetzter Apparat, der die Schweiz in Kriegsbündnisse integrieren will, dort ein paar Unentwegte und die schweigende Mehrheit, die noch nicht gemerkt hat, dass die Todesanzeige für die Neutralität bereits geschrieben ist. Ihr Tod ist einfach noch nicht formell bestätigt.
Noch ist die neutrale Schweiz der guten Dienste, für die unser Herz schlägt, zu retten. Aber dazu braucht es ein Wunder, ein Erwachen und eine Erhebung, wie wir sie mit dem Rütli-Geist in Verbindung bringen. Die Frage ist, was wir dafür tun und ob wir ein solches Wunder überhaupt verdient haben.
Medienmitteilung des VBS: Für eine umfassende Sicherheit: Vernehmlassung zur Sicherheitspolitischen Strategie der Schweiz. 12.12.2025