Das Ende des amerikanischen Traums
Glaubt man den offiziellen Statistiken, so hat sich der amerikanische Traum in den letzten 50 Jahren praktisch unaufhörlich realisiert. Wie kann es sein, dass nur noch 36% der Bürgerinnen und Bürger der USA an ihn glauben? Weil wir das Falsche messen.
Am 24. November veröffentlichte das Wall Street Journal einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel: «Befragte sehen den amerikanischen Traum ausser Reichweite rutschen.» Der amerikanische Traum lautet: «Jeder, der hart arbeitet, kann vorankommen, unabhängig von der Herkunft.» («Anyone who works hard can get ahead, regardless of their background.») Das Wall Street Journal führte zusammen mit dem National Opinion Research Center (NORC at the University of Chicago) hierzu kürzlich eine Umfrage durch.
Traurige Einschätzungen
Das Ergebnis: nur 36% der Befragten sagen, dass der amerikanische Traum noch immer zutrifft. 2016 waren es noch 48% und 2012 gar 53% gewesen. Also nur mehr gut ein Drittel der US-Amerikaner glauben heute, dass man durch harte Arbeit unabhängig von seiner Herkunft aufsteigen kann.
Das Leben war vor 50 Jahren besser als heute
Die Hälfte der in den USA lebenden Menschen meint demnach ausserdem, dass das Leben in den USA heute schlechter ist als vor 50 Jahren, während nur 30% glauben, es sei besser als vor 50 Jahren. Auf die Frage: «Ist das polit-ökonomische System gegen Leute wie mich gerichtet?» antwortete die Hälfte mit ja, 39% mit nein. Von den Schwarzen beantworteten die Frage 68% mit ja. Also die Hälfte der Menschen glaubt, dass das System gegen sie arbeitet, von den Schwarzen gar mehr als zwei Drittel.
Frauen und jüngere Menschen besonders pessimistisch
Besonders schlimm schätzen Frauen die Lage ein. Von ihnen glauben nur noch 28% an den amerikanischen Traum, während es bei den Männern 46% sind. Auch die jüngeren Menschen sind besonders pessimistisch: Von den Amerikanern unter 50 halten nur noch 28% den amerikanischen Traum für wahr.
Fassen wir zusammen: Nur noch gut ein Drittel der US-Amerikaner glauben derzeit, dass man durch harte Arbeit unabhängig von seiner Herkunft aufsteigen kann.
Unsere Kinder werden es schlechter haben als wir
Dazu kommt: Nach einer Umfrage von NBC, die das Wall Street Journal zitiert, gehen derzeit nur noch 19% der Amerikaner davon aus, dass das Leben ihrer Kinder besser sein wird als ihr eigenes – ein Rekordtief seit Erhebungsbeginn 1990. Über vier Fünftel aller Amerikaner, über 80% erwarten, dass es ihren Kindern nicht besser gehen wird.
Fassen wir zusammen: Nur noch gut ein Drittel der US-Amerikaner glauben derzeit, dass man durch harte Arbeit unabhängig von seiner Herkunft aufsteigen kann, etwa die Hälfte geht davon aus, dass das System gegen sie arbeitet und nur mehr 19% erwarten, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden als sie. Das sind ernüchternde Ergebnisse.
Die offiziellen Zahlen zu BIP und Wirtschaftskraft
Diese Ergebnisse widersprechen diametral den offiziellen Statistiken. Nach den offiziellen Zahlen ist der wirtschaftliche Wohlstand in den USA in den letzten 50 Jahren fast ununterbrochen gestiegen. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopfhat sich seit 1970 weit mehr als verdoppelt, das kaufkraftbereinigte reale BIP pro Kopf (Purchasing Power Parity Converted GDP per Capita) hat sich ziemlich genau verdoppelt.
Wie kann es sein, dass nach den offiziellen Zahlen der reale ökonomische Wohlstand pro Kopf in den USA seit Jahrzehnten fast ununterbrochen steigt und gleichzeitig die Hälfte der Menschen davon ausgeht, dass es ihnen heute schlechter geht als vor 50 Jahren? Glaubt man den offiziellen Statistiken, so hat sich der amerikanische Traum in den letzten 50 Jahren praktisch unaufhörlich realisiert. Wie kann es sein, dass nur noch 36% der Bürgerinnen und Bürger der USA an den amerikanischen Traum glauben?
Wir messen das Falsche
Der Grund ist recht einfach: Die offiziellen Zahlen zur Wirtschaftskraft, die offiziellen Angaben zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), die ständig in den Medien berichtet werden und von denen automatisch unterstellt wird, sie würden unseren Wohlstand wiedergeben, messen das Falsche. Jedenfalls messen sie nicht unseren Wohlstand. Sie messen nur die aufgewendeten und verbrauchten Ressourcen und Arbeitsstunden. Das hat aber nichts mit unserem Wohlstand oder gar mit unserem Wohlergehen zu tun. BIP-Wachstum und Wohlstands-Wachstum oder gar Sich-Wohlfühlen haben schon lange fast gar nichts mehr miteinander zu tun. (1)
Wenn man das Falsche misst, trifft man auch die falschen Entscheidungen.
Das Problem ist: Wenn wir das Falsche messen und daran unsere ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Entscheidungen ausrichten, dann tun wir auch das Falsche, dann entscheiden wir falsch. Die heutige Messung des BIP und die zum grossen Teil drauf ausgerichteten wirtschaftspolitischen Massnahmen müssen uns zwangsläufig in Fehlentscheidungen grossen Stils führen. Und das tun sie auch, wie die aktuellen Umfrageergebnisse des Wall Street Journal beeindruckend zeigen. Es ist dringend an der Zeit, zu einer realitätsnahen Wirtschaftsmessung und Politik überzugehen.
Gründe für die Falschmessung
Warum BIP-Wachstum und Wohlstandswachstum fast nichts miteinander zu tun haben, hat im Wesentlichen drei Gründe: (2)
- Immer mehr unproduktive, unnötige und unsinnige Arbeit.
- Immer mehr rein konservierende Arbeit, wie insbesondere im Gesundheitssektor.
- Immer stärkere Ungleichverteilung, die dafür sorgt, dass die Früchte des Wirtschaftswachstums nicht zur grossen Mehrheit der Bevölkerung, sondern zu einer kleinen reichen Minderheit fliessen.
Diese Trends gelten nicht nur für die USA, sondern für praktisch alle Industrieländer, ja vermutlich für die meisten Länder der Welt. Deshalb beziehen sich die folgenden Ausführungen nicht nur auf die USA, sondern v.a. auch auf Deutschland.
Immer mehr unproduktive, unnötige und unsinnige Arbeit
In den letzten Jahrzehnten haben sich diejenigen Tätigkeiten, die nicht unmittelbar Güter oder Dienstleistungen herstellen, dramatisch erhöht. Bürokratie, Zertifizierungen, Überwachung, Kontrolle, Akkreditierungen usw. haben in den letzten Jahrzehnten in fast allen Branchen dramatisch zugenommen, die Klagen darüber quer durch das ganze Gesellschaftsspektrum sind ausführlich und lang.
Doch auch andere Branchen tragen dazu bei: Zum Beispiel hat sich der Umsatz von Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland von 2,4 Milliarden Euro 1995 auf 9,85 Milliarden 2021 mehr als vervierfacht.
Security-Personal und Überwachungskameras erhöhen aber nicht unseren Wohlstand, sondern sie versuchen lediglich einen Zustand ohne Unsicherheit und Kriminalität aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, zu konservieren. Jeder Euro, der in diese Branche fliesst, vermindert daher letztlich unseren Wohlstand gegenüber dem Zustand zuvor, in dem diese Tätigkeiten nicht erforderlich waren, weil es weniger Kriminalität oder weniger Angst vor Kriminalität gab.
Ähnliches gilt für die Arbeit von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Deren Zahl hat sich in Deutschland in der Nachkriegszeit vervielfacht. So wichtig diese Berufe für ein funktionierendes Wirtschaftsleben sind, saugen sie jedoch viele Ressourcen auf, ohne unmittelbar den Wohlstand zu erhöhen. Ein weiteres Beispiel sind Marketingausgaben, die in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen haben. Sie erhöhen unseren Wohlstand nicht, sondern vermindern ihn, indem die beworbenen Produkte und Dienstleistungen teurer werden.
Immer mehr rein konservierende Arbeit
In den USA stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 5 Prozent 1960 auf 18,3 Prozent 2021, in Deutschland von 10 Prozent 1997 auf 13,2 Prozent 2021. In einer erweiterten Abgrenzung spricht das Bundesgesundheitsministerium aktuell davon, dass in Deutschland derzeit etwa 7,7 Millionen Beschäftigte oder etwa jeder sechste Erwerbstätige im Gesundheitswesen arbeiten. In den USA ist der Anteil noch höher. Das heisst, momentan werden in Deutschland und in den USA etwa ein Sechstel der gesamten Wirtschaftskraft für Gesundheitsaufwendungen ausgegeben.
Diese Tätigkeiten sind ungeheuer wichtig. Aber was heisst das für unseren Wohlstand? Je mehr Zeit, Geld und Kraft wir im Gesundheitssektor aufwenden müssen, um unsere Gesundheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, desto mehr Produktionspotential wird aus den anderen Branchen abgezogen und desto geringer wird daher unser reales Wohlergehen. Ein Grossteil des Zuwachses an Gesundheitsausgaben der letzten Jahrzehnte hat daher letztlich nicht unseren Wohlstand erhöht, sondern vermindert. Je kranker wir werden, desto mehr sinkt unser Wohlstand. Je mehr die Zivilisationskrankheiten steigen, desto ärmer werden wir und desto schlechter geht es uns.
Die Schere geht auf: Immer stärkere Ungleichverteilung
In den USA nimmt die Ungleichverteilung seit vielen Jahrzehnten, mindestens seit 1971, zu. Laut offiziellen Angaben der US-Regierung verdiente beispielsweise 2021 ein männlicher Vollzeitarbeitnehmer, der das ganze Jahr über arbeitet und über 15 Jahre alt ist, mit 61.180 Dollar Median-Jahresverdienst inflationsbereinigt, also real, praktisch genau so viel wie 1974. Männliche Arbeiter in den USA hatten also in den letzten 47 Jahren laut amtlicher Statistik real keinen Cent Lohnerhöhung.
Auch in Deutschland steigt die Ungleichverteilung seit Jahrzehnten. Laut dem jüngsten Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung von Anfang November 2023 hat die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland von 2010 bis 2022 zugenommen. Das Ergebnis der gewerkschaftsnahen Wissenschaftler lautet: «Das eindeutige Fazit zu den Armutsquoten: Seit Jahren wächst der Anteil der Personen, die von Armut betroffen sind.» (4)
Die aktuelle WSI-Studie bestätigt einen seit langem in Deutschland (und den meisten anderen Industrieländern) bestehenden Trend zu steigender Ungleichverteilung. Beispielsweise erschien im November 2011 eine OECD-Studie zu Deutschland mit dem bezeichnenden Titel: «Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising», die zeigt, dass sich die Ungleichverteilung in Deutschland sowie in den USA seit Mitte der 1980er Jahre deutlich erhöht hat.
Fazit
Laut Wall Street Journal ist der amerikanische Traum, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, durch harte Arbeit vorankommen kann, ausgeträumt. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner glaubt nicht mehr daran. Die tieferen Gründe dafür sind vor allem immer weiter zunehmende unproduktive, unsinnige und unnötige Tätigkeiten, zunehmende Zivilisationskrankheiten sowie die immer weiter aufgehende Schere zwischen arm und reich. Wenn diese Fehlentwicklungen – die nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und fast allen anderen Ländern stattfinden - nicht angegangen werden, sehen wir keiner gedeihlichen Zukunft entgegen. Wenn Träume platzen folgt oft ein unangenehmes Erwachen.
(1) Vgl. Kreiß, Christian, Das Ende des Wirtschaftswachstums – die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral, Hamburg, tredition 2023
(2) De facto gibt es noch einige andere Gründe, beispielsweise, dass wir «Glück» gar nicht messen, Wohlfahrt, Wohlergehen in den Zahlen gar nicht erfassen. Zur Kritik an der klassischen BIP-Messung gibt es eine umfangreiche Literatur, vgl. z.B. den Abschlussbericht der «Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität» von 2013: https://dip.bundestag.de/vorgang/.../31285
(3) Zahlreiche weitere Beispiele für rein konservierende Tätigkeiten finden sich bei Kreiss, Christian, Das Ende des Wirtschaftswachstums – Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral, Hamburg, tredition 2023
(4) WSI Report 90
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