Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt

Sie bieten uns jene Ablenkung, ohne die wir kaum noch zu leben vermögen. / © Nicolas Lindt

Jeden Morgen, wenn ich mit dem Hund den Berg hinauflaufe, nehme ich die Kopfhörer mit und höre ein Hörbuch. Die Stecker im Ohr sind auch für mich ein Stück Alltag geworden. Das war natürlich nicht immer so. Früher einmal, Jahrzehnte ist’s her, konnte man Musik unterwegs nur aus dem Lautsprecher eines Radios hören. Unvermeidbar wurde auf diese Weise auch die Umgebung akustisch beglückt. Das führte zu komischen Situationen, in der Badeanstalt zum Beispiel, wenn von überall her aus den tragbaren Radios Musik ertönte oder Sportreportagen gesendet wurden. Doch niemand störte sich daran. Musikgeplärr aus dem Radio des Nachbars gehörte zum zwischenmenschlichen Umgang.

Dann wurde der Kopfhörer für die breite Masse erfunden. Das war eine grosse Errungenschaft - auch für mich. Auf einmal konnte ich Musik hören, ohne andere damit zu belästigen. Ich konnte sie so laut und so lange in mich hineinträufeln lassen, wie mir der Sinn stand, und ohne dass die Umgebung mitbekam, was ich gerade hörte. In aller Öffentlichkeit konnte ich mich in meine private Sphäre zurückziehen.

Heute haben fast alle überall ihre Kopfhörer an. Auf Schritt und Tritt begegnen wir Kopfhörermenschen, und neuerdings sind die Stecker im Ohr sogar kabelfrei. Sie sehen zwar etwas dümmlich aus, wie missratene ausserirdische Ohrclips, aber das kümmert uns nicht, denn sie bieten uns jene Ablenkung, ohne die wir kaum noch zu leben vermögen. Es könnte uns langweilig werden, das ertragen wir gar nicht mehr. Davor haben wir richtig Angst, und wir wollen uns auch nicht einsam fühlen. Die Kopfhörer begleiten uns überall hin.  

Vor einer Weile, als ich, wie immer begleitet von einem Hörbuch im Ohr, meine tägliche Runde drehte, näherte sich mir eine Frau, die dasselbe wie ich tat: Sie war auf demselben Wanderweg unterwegs und sie trug wie ich ihren Zeitvertreib in den Ohren. Weit und breit war sonst niemand zu sehen, ausser dem Bauern, der weiter vorn auf seinem Hof mit dem Reparieren des Traktors beschäftigt war.

Wenig später gingen die Frau und ich aneinander vorbei. Wir nickten uns zu und lächelten, doch beide wollten nicht stören und nicht gestört werden, denn was wir gerade hörten, war für beide offenbar spannend genug, um es nicht unterbrechen zu wollen.

Kaum entschwand die Wandererin meinem Gesichtsfeld, überlegte ich mir, was da gerade geschehen war. Zwei Menschen gehen aneinander vorüber, niemand sonst kreuzt ihren Weg, beide haben diese Dingerchen in den Ohren, als wären sie schon mit ihnen zur Welt gekommen, und beide signalisieren, dass sie nicht daran denken, sie aus den Ohren zu nehmen. Wir machen von vornherein klar, dass wir keiner Unterhaltung bedürfen – weil das, was wir gerade hören, mit Sicherheit interessanter ist als das, was wir uns möglicherweise zu sagen hätten.

Deutlicher, denke ich, könnte man nicht erleben, wie fremd sich die Menschen geworden sind und wie sehr uns die überzivilisierte Welt dazu erzogen hat, uns gegenseitig in Ruhe zu lassen. Wir könnten uns sonst zu nahetreten, und davor schützen wir uns. Jeder bleibt in seiner eigenen kleinen, abgekapselten Kopfhörerwelt, wo wir nichts hören, was wir nicht hören wollen, und wo das Risiko einer Begegnung eliminiert ist.

Die Frau, an der ich vorbeiging, war wie ein Spiegel. Ich erblickte mich selbst, ich sah diese lächerlichen Kopfhörer, und ich nehme sie seither ganz automatisch aus den Ohren, wenn mir ein Mensch von weitem entgegenkommt. Ich verlasse meine eigene kleine Welt, um dem anderen Menschen zu zeigen: Es gibt nicht nur mich. Es gibt auch dich. Ich kenne dich nicht, aber ich möchte dir signalisieren, dass du mich interessierst. Ich möchte die Möglichkeit offenlassen, dass wir uns, wenigstens mit ein paar Worten, begegnen können.

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