Das wahre Flüchtlingsproblem
Wer sind die Menschen, die als Flüchtlinge ihr Leben riskieren, um zu uns ins «reiche» Europa oder in die USA zu kommen? Die wenigsten sind Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention, sagt Autor Gwynne Dyer. Und es wird noch schlimmer kommen.
Immer mal wieder bewegt ein Foto des tragischen Todes eines Flüchtlings (normalerweise betrifft es ein Kind) die Öffentlichkeit.
Das Foto des dreijährigen Alan Kurdi, 2015 geflüchtet vor dem Krieg in Syrien, mit dem Gesicht nach unten in der Brandung an einem türkischen Strand, entfesselte eine Welle des Mitgefühls, die darin gipfelte, dass Deutschland im selben Jahr seine Grenzen für 900’000 Flüchtende öffnete - und Ungarn einen Grenzzaun errichtete, um sie fern zu halten.
Jetzt geht es wieder los. Ein Bild der 23 Monate alten Valeria Martinez, im T-Shirt ihres Vaters steckend, beide mit dem Gesicht nach unten tot am Ufer des Rio Grande, hat eine ähnliche Welle der Sympathie in den USA ausgelöst, die allerdings das Weisse Haus ganz gewiss nicht erreichte. Und wieder behaupten die meisten Einwanderer, Flüchtlinge zu sein.
Tatsache ist: In beiden Fällen passte auf wenige der Einwanderer die Definition «Flüchtling». Die Araber und Afghanen flohen vor genuinen Kriegen nach Europa, doch sie waren bereits in der Türkei, die relativ sicher war. Sie wollten einfach weiter, irgendwohin, wo die Chancen auf Arbeit besser standen, und damit die Aussichten auf einen höheren Lebensstandard. Das ist verständlich, doch es gibt einem kein Recht auf Asyl als Flüchtling.
Dasselbe trifft zu auf die Einwanderer, die über das Mittelmeer von Afrika nach Europa kommen, obwohl tausende von ihnen bei dem Versuch ertrinken. Sie fliehen vor Armut oder diktatorischen Regimes, vor dem Klimawandel - doch sie fliehen nicht vor dem Krieg.
Sie haben auch keine «wohlbegründete Furcht» vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer politischen Meinung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, so der Wortlaut des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge der Vereinten Nationen von 1951. Also gelten sie nicht als Flüchtlinge. Wir mögen Mitgefühl für sie empfinden, doch es gibt keine gesetztliche Verpflichtung, sie hereinzulassen.
Das Flüchtlingsabkommen fand Eingang ins US-Recht im «Refugee Act» von 1980; entsprechend gelten auch nur wenige der Menschen, die Einlass an der mexikanischen Grenze suchen, als Flüchtlinge. Das ist wichtig zu wissen, denn während vor 20 Jahren 98 Prozent der Menschen, die die Grenze überquerten, junge Mexikaner waren, die Arbeit suchten, sind heute mehr als die Hälfte ganze Familien aus El Salvador, Guatemala und Honduras - und die meisten von ihnen behaupten, Flüchtlinge zu sein.
Sie sind es nicht - und das (nicht Donald Trump) ist der Grund, warum die US-Gerichte mindestens drei Viertel der Anträge auf Flüchtlingsstatus abweisen. Man mag sich wünschen, dass das Gesetz eine grosszügigere und menschlichere Haltung an den Tag legen möge, doch das ist nicht der Fall. Und wenn Sie denken, die Lage sei schlimm, so wird sie in 20 Jahren zehn Mal schlimmer sein.
Die globale Erwärmung hat bereits konkrete Auswirkungen. Wir befinden uns immer noch auf den Anfängerpisten, doch die Dürren und Überschwemmungen, und die Ernteausfälle, die sie verursachen, multiplizieren sich - ganz besonders in den Tropen und Subtropen, wo die Temperaturen bereits hoch sind.
In den am meisten betroffenen Gebieten (die den «nördlichen Triangel» von Zentralamerika einschliessen) gehen Familienfarmen zugrunde, die Menschen leiden Hunger und die Zahl derer, die sich auf den Weg machen, wächst. Genau das haben unveröffentlichte, regierungsinterne Studien in Ländern wie den USA und des Vereinigten Königreichs vor 20 Jahren voraus gesagt. Jetzt ist es soweit.
Während die Anzahl der Flüchtlinge steigt, sinkt unweigerlich die Bereitschaft von Gastländern, sie aufzunehmen. 5 Prozent «neue» Bevölkerung in einem Jahrzehnt fühlen sich für manche Menschen störend an, ganz besonders, wenn es grosse kulturelle Unterschiede zwischen der eingesessenen Bevölkerung und den Einwanderern gibt, doch die meisten Menschen akzeptieren das und passen sich an. 10 Prozent Zuwanderung in einem Jahrzehnt erhöhen den Druck, auch wenn es pro Jahr nur ein Prozent ist. Und 20 Prozent Zuwanderung in einem Jahrzehnt würden eine grosse politische Gegenbewegung in fast jedem Land der Erde auslösen.
Das ist die menschliche Natur. Man mag es bedauern, doch es wird sich nicht ändern. Und hinter unbequemen Überlegungen bezüglich dessen, was die Politik erlauben wird, präsentiert sich die noch härtere Realität, dass sie nicht alle kommen können. In 20 Jahren wird die Zahl der Menschen, die verzweifelt ihre Heimat verlassen wollen, wesentlich grösser sein als die Zahl derer, die in den Zielländern aufgenommen werden können.
Also werden Grenzen geschlossen, hauptsächlich in den durchschnittlich temperierten Ländern, wo das Klima noch tolerierbar ist und es genug zu essen gibt. Und glauben Sie nicht an das Märchen, dass Grenzen nicht geschlossen werden können.
Das geht ganz einfach, wenn Sie willens sind, Menschen zu erschiessen, die illegal Grenzen überqueren wollen - und die Regierungen der Zielländer werden vermutlich genau das tun, wenn es zum Äussersten kommt. Ihre militärischen und zivilen Beamten, wenn nicht gar ihre Politiker, führten darüber bereits vor 15 Jahren harte Debatten.
Gwynne Dyer ist ein profunder Kenner der internationalen Politik, schreibt von London aus für Zeitungen und Zeitschriften in 45 Ländern und ist Autor zahlreicher Bücher.
Übersetzung: Claudia Fahlbusch
Mehr dazu
- Gwynne Dyer on The Hamilton Spectator, Sammlung von (englischen) Texten des Autors
- "War" with Gwynne Dyer, complete Series of Videos on Youtube
- Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, von Harald Welzer
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