Der Antiquar von Prag – und der Untergang des Abendlandes (Teil 2)

Menschen, Ameisen und Bienen bilden Völker und Staaten. Für die beiden letztgenannten gilt: Das Volk ist alles, das einzelne Tier ist nicht überlebensfähig. Das Volk erschafft die Königin und bildet einen «sozialen Organismus». Beide, Ameisen- und Bienenvölker, wirtschaften höchst effizient und sind, wenn man sie in ihrem weisheitsvollen Tun nicht stört, sehr friedlich und darüber hinaus wertvoll für Natur und Erde. Und der Mensch? Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 2 dieser Geschichte.

Karlsbrücke in Prag / © Andreas Beers

Eine rötlich schimmernde, pulsierende Wärmewolke bewegt sich durch den blauen Äther. In ihrem Zentrum ein leuchtender Keim. Ein lautes Summen, das in ein Brummen und sich weiter zu einem kolossalen dumpfen Schlagen verwandelt, immer lauter und lauter … , dann ein Lichtblitz! An ihrer Stelle ein schwarzes Loch? Nein! Es ist ein Punkt, der sechs Bogenlinien nach sich ziehend in die Tiefe stürzt … , auf etwas zurast in der Ferne … Linien? Schriftzeichen oder Zahlen? Ja, … 2200 … , – dann ein lauter Knall! Václav schreckt hoch, das Buch mit den goldenen Lettern liegt auf dem Boden neben ihm. In der Ferne hört er das dumpfe Schlagen der Glocken. «Verdammt, ich bin eingeschlafen!», sagt Václav zu sich selbst, schiebt seine verschobene Brille zurecht, hebt das Buch auf, schaut es prüfend an und legt es zurück auf die Werkbank. Dann macht er sich eilig auf den Weg ins Kavárna Slavia.

Prag, den 18. Juli 2223. Die Nachmittagssonne glitzert auf den blau dahinziehenden Wogen der Moldau. Schwer beladene breite Lastkähne mit am Heck flachliegenden Schaufelrädern schieben sich wie Bieber durch den Strom. Das Surren der modernen Schwingungsmotoren ist kaum zu hören. An den Piers wird emsig aus- und eingeladen. Dicht an dicht liegen sie hier im Zentrum der Stadt wie Fischgräten nebeneinander. Ein ausgeklügeltes Kanalsystem verbindet nicht nur die Flussadern des eigenen Landes, sondern erstreckt sich weit darüber hinaus bis an die Meeresküsten des Nordens und Südens. Václav betritt das Slavia durch die grosse, an der Ecke liegende doppelflüglige, aus Mahagoni gefertigte Eingangstür. Er bleibt stehen und schaut sich suchend nach Inka um. Wie immer herrscht hier reges Treiben. Die alte Tradition der Caféhäuser ist nach langer Zeit wieder in Mode gekommen: ein pulsierender Austausch über das Geschehen der Welt – diskutieren, philosophieren und fachsimpeln auf höchstem Niveau. «Das sind die neuen Universitäten der Welt!», denkt Václav in diesem Moment und erblickt Inka weit hinten im Saal, ihm schon zuwinkend an einem der polierten Kalksteintische mit Blick auf den Fluss.

Inka Bernášková schiebt ihre Unterlagen zur Seite und macht Platz für die zwei Turecká kavá, die sie soeben beim Kellner bestellt hat. Inka ist Herausgeberin des Wirtschaftsjournals Organický obchodování. Das Kavárna Slavia, es ist sozusagen Inkas Arbeitsplatz. Hier verbringt sie viel Zeit, lässt sich inspirieren durch die Gespräche mit Handelsreisenden, Reedereibesitzern, Hafenarbeiter, Journalisten, und natürlich mit den Studenten und Professoren der Karls-Universität. Am liebsten plaudert sie mit Václav, dem wandelnden Universallexikon, wie sie ihn nennt. «So, schiess los», begrüsst sie Václav umarmend und zieht ihn ungeduldig an den Tisch. «Imperien oder Insekten, mit was wollen wir beginnen?», fragt Václav sofort und nippt an seinem dampfenden tiefdunklen türkischen Café – und er beantwortet die Frage gleich selbst:

«In Kürze das mit den Imperien, denn das andere könnte dich mehr interessieren. Um das mit den drei Imperien zu verstehen, mach dich bekannt mit Oswald Spenglers Werk ‹Der Untergang des Abendlandes›. Ich leihe dir gerne mein neues Exemplar aus … – und vergiss nicht, Goethes Art der Beobachtung und Nietzsches Scharfsinn anzuwenden! Dann studiere dazu passend die Vorträge von Rudolf Steiner: Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwicklung, du weisst schon, ich habe ihn öfters erwähnt.» Er nahm einen weiteren Schluck seines Cafés und fährt fort: «Zur Anregung deiner Hirnzellen , gebe ich dir das Wesentliche in Kürze, gleich jetzt mit auf den Weg.» Er schliesst für einen Moment die Augen, schnuppert an seinem Café …. «Also, ich zitiere»:

«Der erste Imperialismus hatte Wirklichkeit: Ein Mensch war der Gott für das Bewusstsein der Menschen, seine Paladine waren Götter. Zweite Form des Imperialismus: Das, was auf der Erde war, war Zeichen … Symbol. Der Gott wirkte nur herein in den Menschen. Dritte Form des Imperialismus: Dasjenige, was hier auf der Erde zunächst von den Seelen ausgeht, entkleidet sich auch des Charakters des Symboles, des Zeichens. Wie es von der Wirklichkeit zum Zeichen gekommen ist, so kommt es vom Zeichen, vom Symbol zur Lüge.» Václav hält kurz inne, an die Decke blickend, «nein, ich glaube es hiess Phrase, das trifft es auch besser! Vor 200 Jahren nannte man dann das Ganze Canceln: die Geschichtsschreibung wurde verdreht, verleugnet oder umgedeutet.»

«Im richtigen Wirtschaften zeigt sich die moderne Spiritualität. Wir müssen dort das konkret geistige Leben suchen, das macht den modernen Menschen aus im Vergleich zu den Tieren!», fährt Václav fort und bestellt mit Handzeichen zwei weitere Turecká kavá. «Natur und Tiere leben die Weisheit, der Mensch muss sie durch seinen Verstand erkennen und mit dem Herzen prüfen. Die Realwirtschaft zur Existenzsicherung und individuell Verantwortung dafür tragen, das ist die Wirklichkeit! Schau dir nur den Bien an, also das Bienenvolk, sein Wesen – reinste Weisheit, Wärme und Liebe … – das ist ihre Ökonomie und Ökologie!». «Langsam, langsam!», sagt Inka und ihr Stift flitzt notierend übers Papier.

«Ein sozialer Organismus und ein brüderliches oder schwesterliches Wirtschaften, in diesem Sinne, das ist die Quintessenz des Lebens!», sagt Václav und zeigt gleichzeitig hinunter zu den Piers an der Moldau. «Sieh doch in die Welt … , sie gehört allen und gleichzeitig niemandem. Was brauchen wir den wirklich, um glücklich zu sein? Eine sinnvolle Tätigkeit, gesunde Nahrung, und … sich gegenseitig achten, fördern und lieben. Nur damit unterbrechen wir den Kreislauf unserer selbst erschaffenen Lebensprobleme und beenden damit endgültig das Imperium der Phrasen und Lügen. Alles andere ist doch Mumpitz!» «Und was ist mit den Ameisen?», fragt Inka. «Bleiben wir bei den Bienen, die sind das bessere Vorbild für das, was nötig ist: Weisheit, Wärme, Liebe … und vor allem: Hoffnung haben und Verantwortung tragen – das ist der Mensch!» Václav und Inka sassen noch lange, wirklich lange im Slavia. Die Moldau glänze schon schwarz wie Onyx und…

Fortsetzung folgt am 21. Februar …

«Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat.» (Václav Havel, *5. Oktober 1936 in Prag; † 18. Dezember 2011 in Vlčice-Hrádeček, war ein tschechischer Dramatiker, Essayist, Menschenrechtler und Politiker.)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.