Der Glaube an die Schwarznasenschafe

Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

Wollnasenschafe, wie sie die neue Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider züchtet. / © Pixabay

Ich habe mich gefreut über die beiden neuen Bundesräte. Beide kommen vom Land. Beide haben etwas Bodenständiges. Beide haben eine positive, gewinnende Ausstrahlung, beide lächeln gern, beide, so scheint es, können auch über sich selber lachen, beide, so sagen sie, lieben die Schweiz, beide möchten für die ganze Bevölkerung da sein, auch für jene, die sie nicht gewählt haben, beide fühlen eine grosse Verpflichtung.

Ich glaube ihnen. Oder sagen wir es so: ich möchte ihnen glauben. Denn ich habe ein natürliches, tiefes Bedürfnis nach Harmonie, und deshalb unterstelle ich ihnen keinerlei schlechte Absichten, keine Unehrlichkeit, kein falsches Spiel. Sie haben mein ganzes Vertrauen, jetzt, unmittelbar nach ihrer Wahl und nach den Interviews, die ich mit ihnen gesehen habe.

So geht es mir immer mit Menschen, die mir auf Anhieb sympathisch sind. Ich vergesse, dass sie möglicherweise einer Partei angehören, die ich nicht wählen würde. Ich vergesse, was im Vorfeld der Wahl Kritisches über sie in der Zeitung stand. Ich vergesse die Vorbehalte, die man gegen sie haben kann, weil ich sie beide mag. Oder sagen wir es so: weil ich sie mögen möchte.

Ich glaube, so geht es den meisten von uns. Wir möchten alle Mitmenschen mögen. Wir möchten, dass alles gut ist, so wie es ist. Und wir möchten, dass alles gut bleibt. Wir möchten keine Probleme. Wir möchten keine Enttäuschung erleben. Wir möchten uns über die beiden Gewählten auch morgen noch freuen können.

Dahinter steht der Wunsch nach dem Himmel auf Erden. Wir möchten, wenn wir auf die Erde kommen, dass es hier unten so ist wie im Himmel. Und es bleibt im Grunde ein Schock für uns, zu erkennen, dass wir auf der Welt kämpfen müssen. Das beginnt schon bei der Geburt, wenn wir uns aus dem Mutterleib ins irdische Leben hinauskämpfen müssen. Und so geht es weiter. Wir müssen uns wehren, schon in der Kindheit. Wir müssen zweifeln. Wir müssen misstrauen. Wir müssen aufpassen. Wir dürfen nicht naiv, nicht gedankenlos sein. Und wir müssen verzichten. Wir müssen ertragen. Wir müssen trauern. Und eines Tages müssen wir sterben. Obwohl wir das alles nicht wollen.

Doch so wird es mir auch mit den beiden neuen Bundesräten ergehen. Schon morgen vielleicht werden sie Dinge sagen, die wir nicht gutheissen können. Schon morgen werden sie – zusammen mit dem Gesamtbundesrat – Entscheidungen fällen, die wir ablehnen müssen. Schon morgen vielleicht werden sie uns enttäuschen. Schon morgen werden wir zu vergessen beginnen, dass wir sie heute mögen. Schon morgen werden wir einmal mehr einsehen, dass es keinen Himmel auf Erden gibt.

Doch etwas bleibt: die vielleicht kindliche Hoffnung, dass sie uns überraschen. Positiv überraschen. Dass sie unsere Vorurteile, die wir innerlich bereits aufbauen, nicht bestätigen werden. Menschen sind nicht immer berechenbar, auch wenn sie der «falschen» Partei angehören. Sie gehen vielleicht – wider alle Erwartung – einen eigenen, unabhängigen Weg.

Das sind Glücksmomente. Wenn ein Mensch sich nicht so verhält, wie wir befürchten. Wenn er unsere Zweifel, unser Misstrauen Lügen straft. Wenn er uns für einen kurzen Moment den Glauben daran zurückgibt, dass alles gut ist. Das wünsche ich mir, ganz unrealistisch, von der neuen Bundesrätin, vom neuen Bundesrat. Dass sie nicht wie die meisten herauskommen werden, die unseren Staat regieren. Dass sie anders sind. Dass sie so menschlich bleiben, wie ich sie am Tag ihrer Wahl erlebt habe. Dass die neue Bundesrätin vor lauter Anpassungsdruck ihre Schwarznasenschafe nicht ganz vergisst. 

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch

Öffentliche Lesung mit Nicolas Lindt am Samstag 17. Dezember um 16 Uhr in der Caféteria des Spitals Männedorf.