Es ist paradox: Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir davon. Heute, 250 Jahre nach Beginn der industriellen Revolution und um zig Millionen zeitsparender Innovationen reicher, haben wir weniger Zeit denn je. Wie ist ein Irrtum dieses Ausmasses möglich?

Eines der grundlegenden Axiome der westlichen Zivilisation und die Basis ihrer Wirtschaft ist zumindest unrichtig: Zeit ist Geld. Auf den ersten Blick hat Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, mit dem meistzitierten Satz der Ideengeschichte natürlich recht. Eine Arbeitsstunde kostet Geld, effizientere Arbeit spart Zeit (und damit Geld!), und eine schlaue Maschine gibt uns die Freiheit, in der gesparten Zeit mehr Geld zu verdienen. So weit, so gut.
Die Realität sieht freilich anders aus: Gerade Menschen mit viel Geld scheinen besonders wenig Zeit zu haben, während Menschen mit wenig Geld eher mehr Zeit haben. Ganz an der Spitze der Pyramide und ganz an der Basis sieht es vielleicht ein bisschen anders aus. Aber per saldo ist die Welt heute so reich wie nie zuvor und gleichzeitig so gestresst wie noch nie in Zeiten des Friedens.
Die Geschichte der Ökonomie steckt voller falscher Prognosen; aber keine liegt so verhängnisvoll daneben wie die Erwartung des Maschinenzeitalters, die Mechanisierung würde den Menschen dauerhaft von Arbeit befreien. Das viele Geld, das wir ins Zeitsparen investiert haben, hat sich nicht gelohnt.


Wie ist es möglich, dass Franklin mit seinem «Time is money» gleichzeitig recht und unrecht haben kann?
Die Antwort ist einfach: Weil jedes Gut seinen Charakter grundlegend verändert, sobald es sich in Geld verwandelt. Wenn wir einen Sack Kartoffeln verkaufen, verwandelt sich das Lebensmittel in eine abstrakte Substanz, die für das Leben erst wieder nutzbar wird, wenn wir sie zurücktauschen, in Äpfel zum Beispiel.
Geld, ein Recht auf Gegenleistung, ist erst nützlich, wenn wir es verwenden, d.h. ausgeben und eine Leistung oder ein Gut in Anspruch nehmen, auf die sich sein Wert bezieht. Wenn wir Geld zurückhalten, also sparen, dann in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt eine adäquate oder sogar grössere Gegenleistung zu erhalten.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Zeit: Wenn wir sie durch produktive Arbeit in Geld umwandeln, steht sie uns erst wieder zur Verfügung, wenn wir das Geld entsprechend ausgeben, für Ferien zum Beispiel oder die unproduktive Zeit im Alter.
Wenn wir die Zeit verstehen wollen, müssen wir also auch das Geld verstehen, sonst sparen wir Zeit, bis wir keine mehr haben. Diese Gefahr ist real. «Wir steuern offenen Auges auf eine Katastrophe zu», sagt der französische Soziologe Edgar Morin im Film «Schluss mit schnell», den Arte Anfang September ausstrahlte. «Niemand denkt an den Zeitdruck, unter dem wir ständig stehen. Ein Selbstmörder weiss wenigstens, dass er sich umbringen will. Aber wir liefern uns ein selbstmörderisches Rennen, ohne es überhaupt zu wissen.»




Geld lässt sich am leichtesten am Punkt seiner Entstehung verstehen
, beim realen Tausch zwischen zwei Wirtschaftssubjekten. Subjekt A hat einen Sack mit 100 Kartoffeln und möchte von Subjekt B 100 Eier. Aber weil die Hühner noch nicht genug gelegt haben und er auch nicht alle 100 Eier gleichzeitig in die Pfanne schlagen kann, erhält A von B ein Anrecht auf spätere Lieferung. Dieses Recht auf Gegenleistung ist ein Kredit; A glaubt, dass B liefern wird. Durch kollektive Vereinbarung wird dieser individuelle Kredit zu allgemein akzeptiertem Geld, das sich jederzeit in einen realen Wert umtauschen lässt (bzw. lassen sollte). Alles Geld ist also Kredit.

Das ist auch in der modernen Geldschöpfung so, nur dass sich zwei kapitale Systemfehler eingeschlichen haben: Erstens haben wir die Schöpfung des gesetzlichen Zahlungsmittels, also des staatlichen Geldes, weitgehend privatisiert. Rund
85 Prozent allen Geldes werden von privaten Banken geschöpft, jedes Mal, wenn sie einen Kredit vergeben. Als direkte Folge davon ist zweitens die gesamte private Geldschöpfung mit Zins belastet. Die Konsequenzen sind absolut dramatisch: Mit jeder Erhöhung der Geldmenge um X erhöhen wir die Schulden um X plus Zins und Zinseszins. Deshalb ist nie genug Geld da, um die Schulden zu bezahlen, und der Abstand wächst mit exponentieller Dynamik. Und vor allem: Es gibt viel mehr Rechte auf eine Gegenleistung (Geld), als je in Leistung (Waren und Dienstleistungen) umgetauscht werden können. Die Geldmengen sind in den letzten Jahrzehnten rund viermal schneller gewachsen als das Bruttosozialprodukt. Das Versprechen der universellen Tauschbarkeit wird zur Illusion.

Wenn wir uns auf die Geldwirtschaft einlassen, betreten wir also ein Feld, in dem wir immer mehr liefern müssen, als wir brauchen und als nötig wäre. Mit jeder Transaktion in Geld bezahlen wir einen gewissen Tribut an die Organisatoren des Geldsystems, denn sie kassieren den Zins, den sie für die aus dem Nichts geschöpften Gelder verlangen. Das geht ins Tuch: Im Durchschnitt aller Preise liegen die Zinskosten bei rund 35 Prozent.
Und die Dynamik verschärft sich: In der Geldwirtschaft müssen wir immer mehr in immer kürzerer Zeit produzieren. Das ist der Fortschritt, den unser Geldsystem für sein Fortbestehen braucht. Wir sparen Zeit und senken die Kosten.



Die Zeit, die auf diesem Weg in Geld umgewandelt wird, stammt aus unterschiedlichen Quellen
: An der Basis der Pyramide müssen die Menschen für Arbeit, die sich nur schwer effizienter gestalten lässt, immer mehr Lebenszeit hergeben – das sind die modernen Sklaven der Service-Industrie, die Putzkolonnen, die zu billig sind, um sie gegen Roboter auszutauschen. Je höher man in der Pyramide steigt, desto effizienter muss gearbeitet werden. Das ist paradox; denn dort hätte es auch mehr Geld, sprich: mehr Zeit. Manager aus dieser Schicht der Pyramide sprechen dann beispielsweise davon, dass nicht die Quantität der Familienzeit entscheide, sondern die Qualität dieser Momente. Dabei haben die immer zu wenig Zeit, wissen also gar nicht, was sie ist. Schliesslich muss man auch, um das Wesen des Geldes zu erfahren, selbst mal welches haben.
Wie es sich an der Spitze der Pyramide lebt, wissen die wenigsten von uns. Vermutlich lässt sich da der Midas-Effekt beobachten. Der Mythos des phrygischen Königs Midas entstand um 700 v. Chr., zur Zeit der Erfindung des Münzgeldes. Midas erhielt von Dionysos, den er erpresste, die Gabe, alles, was er berührte, zu Gold werden zu lassen. Zuerst freute sich der arme Reichling, dass alle Gegenstände, die er berührte, zu Gold wurden. Aber als er sich zu Tisch setzte und essen wollte und als er seine Tochter umarmte, dämmerte ihm sein schreckliches Schicksal. So weit ist das Bewusstsein an der Spitze der Geldpyramide wahrscheinlich noch nicht; da fühlt man sich wohl noch immer als Masters of the Universe, die alles, auch die Lebenszeit der Menschen, in Geld umwandeln können.
Das Fazit von Geneviève Azam, Ökonomieprofessorin an der Universität Toulouse: «Wir erleben heute eine Kolonisierung der menschlichen Zeit durch die ökonomische Zeit (…), die besetzt ist durch die möglichst schnelle Zirkulation von Kapital und Information.»

Es ist wohl kein Zufall, dass die industrielle Revolution erst richtig losbrach, nachdem durch die 1694 gegründete Bank of England das moderne Schuldgeld als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt wurde. Die Menschen wollten nicht nur effizienter werden und Zeit sparen. Sie mussten es auch. Wer Kredite zu bedienen hat, muss morgen besser sein als heute, wenn er übermorgen noch leben will.
Die Dynamik des wachsenden und gleichzeitig immer knapper werdenden Geldes erklärt auch, warum sich die Versprechungen der Moderne von markant kürzeren Arbeitszeiten nie bewahrheiten konnten und sich sogar ins Gegenteil verkehrten – die Schulden wachsen immer schneller als die Guthaben. Die Zeit verkürzt sich, weil wir immer mehr Veränderung in sie hineinpacken müssen.


Die moderne Finanzwirtschaft bietet noch mehr Anschauungsunterricht für den verhängnisvollen Zusammenhang zwischen Zeit und Geld. Der Börsenhandel wird heute zum grössten Teil von Computern mit komplizierten Algorithmen und im Takt von Millionstelsekunden abgewickelt. Dabei sind die meisten Kauf- oder Verkaufsorder gar nicht real, sondern dienen nur zur Erkundung der Algorithmen der anderen Banken. Die Software der Banken hat zwar kriegerische Namen – «Guerilla» bei Credit Suisse oder «Sniper» (Heckenschütze) bei Goldman Sachs. Aber es ist ein Bankraub, bei dem es um so wenige Cents pro Transaktion geht, dass niemand protestiert. Und es geht so schnell, dass niemand es merkt. Kontrolle ist nicht mehr möglich; die amerikanische Börsenaufsicht braucht drei Monate, um drei Minuten Börsengeschehen zu untersuchen.
Dazu kommt: Die meisten Transaktionen betreffen Futures, die die Zeit noch zusätzlich komprimieren. Es ist nur logisch, dass sich mit solchen Geschäften das meiste Geld verdienen lässt. 2006 haben die 20 bestverdienenden Direktoren von spekulativen Fonds im Durchschnitt 657 Mio.
Dollar erhalten, 20-mal mehr als die bestverdienenden Chefs von produktiven Konzernen und 17’000-mal mehr als das damalige US-Durchschnittseinkommen.
Und noch ein Einfluss der Finanzwirtschaft, der unser Zeitbudget massiv beeinflusst: Das meiste Geld, das ausgegeben wird, wandert auf dem Globus dorthin, wo es gerade am meisten Profit abwirft. Würde es in der lokalen Wirtschaft bleiben, müsste die Zeit, die das Geld repräsentiert, nicht gespart werden. Deshalb sind lokale Wirtschaftskreisläufe und alternative Währungssysteme ein guter Weg, sich schrittweise von der Geldwirtschaft zu lösen und Zeit wieder unter eigene Kontrolle zu bringen. Arbeitszeit, die für nachhaltige Projekte aufgewendet wird, fühlt sich dann fast wie Freizeit an. Ein interessante Einrichtung in dieser Hinsicht ist die Park Slope Food Coop in Brooklyn mit tausenden von Mitgliedern, die alle vier Wochen einen Einsatz von knapp drei Stunden leisten. Als Arbeit mag man das Vergnügen kaum bezeichnen, das Laien beim Betrieb ihres Supermarktes mit Bioprodukten zu attraktiven Preisen haben.
Es reicht also nicht, wenn wir dem Zeitdieb auf die Schliche kommen. Wir müssen sogar echte Zeit aufwenden,

Der Film «Schluss mit schnell» aus dem die Zitate von Edgar Morin und Geneviève Azam sowie das Beispiel der Park Slope Food Coop stammen, kann auf youtube in voller Länge angeschaut werden.

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Wenn Sie einen substantiellen Beitrag zur Entschärfung der Geld-Dynamik leisten wollen, ist die Vollgeld-Initiative die passende Gelegenheit.
Die Vollgeld-Initiative will das Recht der Geldschöpfung wieder auf die Nationalbank beschränken. Heute werden rund 85 Prozent des Geldes von den privaten Banken geschöpft und mit Zins belegt, mit weitreichenden Folgen: Umverteilung, Wachstumszwang, Konkurrenzdruck, Umweltzerstörung etc.
Mit der Vollgeld-Initiative wird Geld nach Massgabe des Wirtschaftswachstums schuld- und zinsfrei geschöpft. Unsere Bankguthaben verwandeln sich gesetzliches Zahlungsmittel, vor Bankenpleiten geschützt.
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