Der rote Löwe ­– und die Alchemie von Liebe und Macht (Teil 1)

Irdisches Leben bedeutet Existenz in sieben Formzuständen. Wir befinden uns in der Mitte des vierten Formzustandes. Das heisst: Bewusste Manifestation und Durchdringung des Physischen durch Seele und Geist. Existenz will «sein», ihr Wesen ist gegenwärtige Liebe. Ihr Gegenpol ist Transexistenz, diese will «werden», ihr Wesen ist die Gier nach Macht. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen». Teil 1 dieser Geschichte.

© Mia Leu

«Vor wenigen Minuten betrat Mária Szepes die Eingangshalle des Landhauses. In ihrer Armbeuge hing ein Korb gefüllt mit Lavendelblüten. Sie stiess wie gewöhnlich die grossen, halbbogenförmigen Flügeltüren auf und das Sonnenlicht viel schräg einfallend auf das bunte Mosaik zu ihren Füssen. Plötzlich überkam sie ein eigenartiges Schwindelgefühl. Das Mosaik unter Márias Füssen strahlte zuerst übernatürlich hell, löste sich dann aber plötzlich auf … , nein es wurde transparent, und sie sah durch das Muster hindurch wechselnde verschwommene Bilder: eine Brücke in mehreren Bögen, über einen breiten Fluss gespannt. Breite, mit Baumalleen gesäumte Strassen. Dann ein hoher Saal mit Kronleuchter und vielen Tischen … , und dann tauchte wieder dieser rot schimmernde Löwenkopf auf … »

Auf einem Landsitz in der ungarischen Tiefebene, an einem heissen Sommernachmittag, des Jahres 2197. Die dazugehörigen bis an den Horizont reichenden Ländereien liegen wie ausgebleichte Laken, um den schlossartigen, fünfeckigen Bau. Er liegt im dunklen Schatten mächtiger Kastanien- und Lindenbäume. Die Wogen der Theiss wühlen sich in Sichtweite, träge und hellgrün schimmernd durch das breite Flussbett. Lange, blau-weiss farbige Boote sind an Holzstegen am flachen Ufer vertäut. Von Norden kommend durchzieht der Fluss in flachen Mäandern das weite Land. In grosser Entfernung liegen ein paar kleine Dörfer… , nein, eigentlich sind es Ruinen. Die Reste der noch erkennbaren Häuser liegen wie Steinhaufen nebeneinander, überwachsen von gelb blühenden Disteln, leuchtend blauen Lupinen und rosafarbenen Malven – die Natur holte sich zurück, was ihr genommen wurde und bekleidet es nach ihrem Muster.

Das Bild des rötlich schimmernden, vermutlich aus Sandstein gefertigten, Löwenkopfs hat Mária noch deutlich vor Augen. Sie betritt nun die Küche und stellt den Korb mit den Lavendelblüten auf den in der Mitte des Raumes stehenden grossen Tisch. Der Raum sieht aus wie eine Mischung aus Werkstatt, Labor und Bibliothek. Eine glänzende, aus Kupfer gefertigte Destillieranlage steht auf einem dunklen, schweren Steintisch zur Rechten. Sie giesst sich, aus einem wie eine grosse Sanduhr geformten Glasgefäss, Wasser in einen irdenen Becher und setzt sich an den mitten im Raum stehenden grossen Holztisch. Die Lavendelblüten verströmen ihren schweren herben Duft im schattigen Raum. Mária schliesst ihre Augen, atmet mehrere Male tief durch und verharrt regungslos für ein paar Sekunden … , dann beginnt sie leise zu sprechen.

«Milòsch … , kannst du mich hören? Milòsch? Ahja, jetzt habe ich dich erreicht! Danke dass du mich einlässt in deine Gedanken. Hör mal, ich muss dir was erzählen. Vor wenigen Minuten betrat ich … », so beginnt sie das gerade Erlebte zu schildern. «Und, hast du etwas erkannt?», fragt Milòsch sofort. «Ja, es ist wieder derselbe Ort, auch der rote Löwenköpf tauchte wieder auf ... , und das vertraute Gefühl: ich bin`s, ich war da ... , es muss an dem Mosaik liegen!», fährt Mária fort und fragt: «Hast du schon herausgefunden, woher diese Bodenplatten stammen?» «Ja, ich denke schon. Sie stammen vermutlich aus einem alten Caféhaus in Budapest, aus dem 18. Jahrhundert. Ich habe sie im alten Stadtarchiv auf Bildern wieder erkannt. Es sind dieselben Formen und Muster, leider war das Foto sehr vergilbt». «Dann muss ich wohl öfter dort gewesen sein», sagt Mária, während ihr Blick auf dem kupfernen Destilliergerät ruht. «An was hast du gedacht, als du über das Mosaik liefst?», fragte Milòsch. «An´s destillieren der Blüten, die ich draussen gepflückt habe». «Dann ist dies auch ein Hinweis, so wie der rote Löwe. Ich hab´s dir ja gesagt!». Dann verschwanden die Worte Milòschs aus Márias Wahrnehmungsfeld wie Schatten in der Dämmerung.

Es sind nicht gesprochene Worte, sondern die bewusst gelenkten Gedanken, mit denen Menschen wie Mária und Milòsch kommunizieren. Eine Gabe, die überlebenswichtig geworden ist und die man nicht kaufen kann. Man kann es lernen, wenn man sich auf die wahren Dinge des Lebens ein- und die Stille in sich zulässt. Und das Gute dabei ist: Es braucht dazu nur die Energie des Willens! In Márias Familie ist dies seit zwei Generationen nichts Ungewöhnliches. Auch in den anderen Familien, die seit langer Zeit hier auf dem Landsitz zusammengefunden haben, wird diese Art der Kommunikation angewendet. Seit gut hundertfünfzig Jahren leben sie nun schon, nach der grossen Flucht wie ihr Grossvater es nannte, in dieser einsamen Gegend. Es gibt, wie Mária von Milòsch weiss, noch viele solcher Oasen in anderen Ländern. Sogar in einzelnen Städten gibt es diese Parallelwelten, wie er sie nennt, aber dies ist sehr selten.  

Mária und die Menschen hier kümmern sich nicht viel um die andere Welt, in denen der Kampf um die Gedanken immer noch wütet. Er wird noch lange wüten, denn er wird erhalten durch die unwissenden Massen. Die Menschen hier haben alles was sie zum Leben brauchen und tun das was nötig dazu ist. Mária hört ein lauter werdendes Stimmengewirr von Kindern und Erwachsenen. Sie kommen vom Land zurück, es muss Zeit für das Nachtmahl sein, denkt sie, steht auf und beginnt mit den Vorbereitungen für den Kreis derer, die in diesem Teil des grossen Landhauses wohnen. Ich muss Milòsch noch mal nach dem roten Löwen fragen, sinniert sie vor sich hin. Sie ist sich sicher, dass er eine Bedeutung hat. Immer wieder taucht er auf, wenn sie sich in der Nähe des Mosaiks aufhält. Dieser Stich im Herzen, den sie dann jedes Mal wahrnimmt, muss seine Ursache in einem ihrer vergangenen Leben haben, das spürt sie deutlich. Sie kennt dieses sichere Gefühl aus anderen Situationen.

Fortsetzung folgt am 21. März …

  

«Liebe erzeugt-, Macht fordert Wahrheit und Werte: Gelebte Wahrheit und Werte schaffen Frieden – Machtausübung erzeugt das Gegenteil. Die Quelle der Liebe ist Vertrauen, die Quelle von Macht und Ohnmacht ist Angst!» (Andreas Beers)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.