Die dreizehn grössten Kränkungen des Westens
Hört man westlichen Führern zu, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die westliche Zivilisation sei das Beste, was die Evolution bis heute hervorgebracht hat. Der kurze Rückblick auf die letzten 22 Jahre zeigt eine ganz andere Realität.
Wir haben mit der Demokratie das beste Gesellschaftsmodell und mit dem Kapitalismus das beste Wirtschaftsmodell, prahlen die Leader des Westens. Unser Wohlstand belegt die universale Überlegenheit. Wir sind die Erfolgreichen! Wir sind die Guten! Wir sind das Vorbild! Wir haben Anspruch auf Global Leadership.
Wie es wirklich um die angebliche Überlegenheit des Westens steht, führt uns bereits ein oberflächlicher Rückblick auf die letzten 22 Jahre deutlich vor Augen. Viele Ereignisse und Veränderungen liessen uns spüren, dass unser Selbstbild immer weniger mit der Wirklichkeit zu tun hat. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Kränkungen kurz Revue passieren lassen.
Kränkung 1: Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA
Das neue Jahrhundert begann mit der grössten Demütigung der USA seit ihrer Unabhängigkeitserklärung. Vor den Augen der Welt legten Selbstmordattentäter symbolträchtige zivile und militärische Gebäude in Schutt und Asche. Dies war der Anfang des War on Terror, der in den folgenden Jahren weit über eine Million Todesopfer forderte und den Weltfrieden instabiler machte.
Kränkung 2: Sinkender Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung
Daten des World Economic Outlook zeigen, dass der relative Anteil der USA und der EU an der globalen Wirtschaftsleistung seit den 1990er Jahren kontinuierlich sinkt. Im Gegensatz dazu steigt der relative Anteil von China und Indien.
Kränkung 3: Weltfinanzkrise 2007
Das billige Geld der Zentralbanken – insbesondere des Fed – und ein verantwortungsloses Risikomanagement in der Finanzwelt führten zu einer globalen Finanzkrise mit negativen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, den Warenhandel, die öffentlichen Schulden und den Arbeitsmarkt.
Kränkung 4: Eurokrise ab 2010
Fehlentwicklungen in der Europäischen Währungsunion führten zur Eurokrise, die eine Staatsschuldenkrise, eine Bankenkrise und eine Wirtschaftskrise umfasste.
Kränkung 5: Chinas Aufstieg als Wirtschaftsmacht
Während sich Chinas BIP-Wachstum seit 1980 nur deutlich im positiven Bereich bewegt und Werte bis 15,2% erreicht, fällt das BIP-Wachstum der USA im gleichen Zeitraum vier Mal in den negativen Bereich und erreicht nur maximal 7,2%.
Kränkung 6: Die Abhängigkeit von China
Ausgerechnet die von Kommunisten geführte Volksrepublik China wird zum wichtigsten Produktionsstandort der Welt. Die westlichen Industrieländer deindustrialisieren sich kontinuierlich und lagern ihre Produktion nach China aus. Der Westen wird immer abhängiger von chinesischen Gütern. Auch als Absatzmarkt wird das Reich der Mitte für den Westen immer wichtiger. China wird zum grössten Gläubiger der USA und weltweit zu einem gewichtigen Investor.
Kränkung 7: Gescheiterte Missionen
Wenn sich der Westen, allen voran die USA, in die Angelegenheiten anderer Länder einmischt, rechtfertigt er es gerne mit einer hehren Mission. Es geht um nichts weniger als Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Seine Erfolgsbilanz ist jedoch erbärmlich.
Wo immer der Westen intervenierte, richtete er ein Chaos an und hinterliess Failed States. Beispiele: Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan. Auch der von westlichen Geheimdiensten unterstützte «Arabische Frühling» floppte als Demokratiebewegung. Gemäss Demokratieindex bewegt sich der Anteil der Weltbevölkerung, der in autoritären Regimen lebt, leicht nach oben. In vollständigen Demokratien leben relativ gesehen immer weniger Menschen.
Kränkung 8: Instabile Demokratien
Regierungsbildung wird in den westlichen Demokratien immer komplizierter und das Regieren immer turbulenter. Die zunehmende Polarisierung in der Politik schwächt die grossen traditionellen Parteien, die unter Wählerschwund leiden. Protestparteien entstehen, und Populismus macht sich breit.
Die Gesellschaften sind gespalten und orientierungslos. Das Vertrauen in die Eliten schwindet. Politiker werden als inkompetent erlebt. Ständige Regierungswechsel und ausbleibende Veränderungen lassen die Wähler resignieren. Die Wahlbeteiligung verharrt auf tiefem Niveau.
Kränkung 9: Brexit
Das Verhältnis zwischen Grossbritannien und Kontinentaleuropa war schon immer angespannt. Als sich die Briten weigerten, der fortschreitenden politischen Integration der EU zu folgen, zeigte die EU wenig Flexibilität und provozierte mit ihrer harten Haltung eine Volksabstimmung im Königreich. Die Eliten rechneten mit einem klaren Bekenntnis zur EU – und mussten frustriert zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit der Briten andere Pläne hatte. Die Sezession war ein Schock für das Establishment auf beiden Seiten des Kanals.
Kränkung 10: Greta Thunberg
Nichts hat das männerdominierte Establishment mehr gekränkt als das kleine Mädchen aus Schweden, das für die Rettung des Klimas die Schule schwänzte und vor versammelter Weltgemeinschaft verkündete: «I want you to panic!» Streikende und demonstrierende Schülerinnen und Schüler, die einen nachhaltigen Lebensstil fordern und die Politik an die Wissenschaft erinnern? Welche Anmassung!
Kränkung 11: Pandemie und Deglobalisierung
Ein Virus aus China legt erst das Gesundheitswesen und dann die Weltwirtschaft lahm. Die Regierungen ergreifen Schutzmassnahmen, die vielen Bürgern zu weit gehen. Die Pandemie wird zum medialen Dauerspektakel und zum Stresstest einer sozial distanzierten und verängstigten Gesellschaft.
Viele Menschen fühlen sich von Politikern, Experten, Medien und Big Pharma betrogen. Demonstranten haben einen schweren Stand. Massnahmenkritiker machen die Erfahrung, dass abweichende Meinungen nicht erwünscht sind. In der Wirtschaft machen sich dysfunktionale Lieferketten bemerkbar. Die Pandemie erinnert auch daran, wie zerbrechlich die Globalisierung ist.
Kränkung 12: Ukrainekrieg und entlarvte Doppelmoral
Im Februar 2022 eskaliert ein seit 2014 andauernder Konflikt in der Ukraine. Der komplexe Konflikt entfaltet sich auf vier Ebenen:
1) Separatisten gegen die ukrainische Regierung,
2) Russland gegen die prowestliche Ukraine,
3) Russland gegen die NATO und
4) BRICS gegen den Westen.
Die von Putin bereits 2021 angekündigte militärische Offensive löst im Westen hysterische Entrüstung und eine mediale Generalmobilmachung aus. Plötzlich befindet sich die «freie und zivilisierte Welt» im Krieg mit Russland. Die Empörung ist grenzenlos: Wie kann es Putin wagen, seine Drohung wahr zu machen und die Pläne der USA, der EU und der Selenski-Regierung dreist zu durchkreuzen?
Während man die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland aus moralischen Gründen beendet und tatenlos zuschaut, wie eine milliardenteure Infrastruktur (Nord Stream) in einem Akt des Terrors zerstört wird, schliesst man Lieferverträge mit autoritären Regimen ab. Die Grünen setzen sich nicht nur vehement für Waffenlieferungen ein, sondern auch für die Verstromung von Kohle. Die Sanktionen werden von grossen Teilen der Weltbevölkerung nicht mitgetragen und verfehlen das erhoffte Ziel. Die Eskalation geht weiter. Dem Westen fällt nichts Besseres ein als Waffenlieferungen – lieber ein Weltkrieg als ein Zugeständnis an Russland!
Kränkung 13: Alternative und soziale Medien
Die Rolle der Vierten Gewalt in der Demokratie übernehmen mehr und mehr alternative und soziale Medien. Die Mainstreammedien arbeiten kaum noch investigativ und machtkritisch. Sie beschränken sich darauf, die Narrative der Politiker und Wirtschaftseliten zu verbreiten. Sie wollen einfach ungestört Geld verdienen, weshalb sie am liebsten neoliberale Positionen ventilieren.
Das Publikum entdeckt derweil die bunte Vielfalt der alternativen und sozialen Medien und bildet sich seine Meinung jenseits der traditionellen Medien. Dieser Akt der Selbstermächtigung ruft natürlich die Zensurbürokraten auf den Plan. Dissens wird einfach zu «Desinformation» umgelabelt und aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Diskreditierungs- und Zensuraktivitäten nehmen unübersehbar zu. Freie Bahn für die regierungstreue Desinformation!
Schlechter Start ins 21. Jahrhundert
Summa summarum kann festgehalten werden, dass der Westen einen schlechten Start in das 21. Jahrhundert hatte. Die Demütigungen und Kränkungen sind zahlreich. Das Selbstbild hat sich als Wunschdenken entpuppt. Welche Lehren ziehen die Leader daraus? Im Wesentlichen nur eine: Weiter so. Krisen gehören zum Geschäft. Bitte mehr vom Gleichen!
Mit seinem elitären Hochmut, seiner moralischen Selbstgefälligkeit und seiner einfältigen The-winner-takes-it-all-Strategie macht der Westen alles schlimmer. Wir stehen vor einer Konflikteskalation, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Selbst wenn wir Glück haben und der Ukrainekrieg nicht in einem nuklearen Inferno endet, bleibt eine bipolare Weltgemeinschaft zurück, die sich nicht mehr viel zu sagen hat und sich ständig im Kriegsmodus befindet. Ich bedaure alle Generationen, die sich mit dieser trostlosen Zukunft abfinden müssen.
Etwas mehr Bescheidenheit, Demut und Bereitschaft zur Selbstkritik würde dem Westen besser zu Gesicht stehen. Und die Welt zu einem besseren Ort machen.
von:
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