Durch dick & dünn und allzeit bereit – mein Handy!

Ist das omnipräsente Handy Fluch oder Segen unserer modernen Zeit? Was macht es wirklich mit uns und wie können wir es vom hohen Sockel stossen, ohne auf seine Vorteile verzichten zu müssen? Kolumne von Mirjam Rigamonti Largey.

© Pixabay

Neulich im Zug blickte ich von meinem Handy auf und sah alle Passagiere um mich herum auch am Handy herumhantieren. Jeder für sich, absorbiert und isoliert. Plötzlich wurde mir die Absurdität dieses Verhaltens bewusst: Da fahren fremde Menschen mit hoher Geschwindigkeit in einer Metallbüchse durch die Landschaft,  ohne dies oder einander sonderlich zu beachten. Die reale Welt wird zu einer Randerscheinung. 

Dasselbe Bild zeigt sich auch an Bahnhöfen und unterwegs. Die Menschen, beschäftigt mit ihren Geräten, leben sie wie Schattenwesen nebeneinander her, ohne einander wirklich wahrzunehmen. Und wenn sie nicht tippen oder telefonieren, lassen sie sich durch Videoclips oder Musik berieseln.

Ein kleines Gerät ist zu einer allerfüllenden Gottheit mutiert, der wir hörig folgen. Kaum jemand der «Vor-Handy-Generation» hätte sich vorstellen können, wie viele Möglichkeiten ein kleines Gerät bergen könnte. Als «Mädchen für alles» verbindet es uns mit der ganzen Welt und lässt uns jederzeit und überall digital kommunizieren. Google sei Dank beantwortet es zig Fragen und lotst uns sicher durch fremde Gegenden. Es ist Foto- und Filmkamera, Taschenspiegel, Taschenlampe, Arbeitswerkzeug und Zeitvertreib zugleich. Es bietet Spiele für jedes Alter und jeden Geschmack und dient vielen Eltern als bequemen Babysitter. Und mit Twint haben wir sogar unsere Bank im Taschenformat dabei.

Bei all diesen Möglichkeiten erstaunt das hohe Suchtpotential nicht. Ohne Handy fühlen wir uns nackt und hilflos, wie eine Schildkröte ohne Panzer. Wie bei jeder Sucht verkommt der anfängliche Vorteil plötzlich zum schädlichen Nachteil. Eine perfekte Kunstwelt wird zum Ersatz für die reale Welt, unsere sinnliche Wahrnehmung wird auf Bildschirmformat eingeengt und die Motorik auf zwei Daumen reduziert. Das Leben findet fast nur noch im Kopf ab, auf der kurzen Strecke zwischen Augen und Gehirn. Viele lustvolle sinnliche Tätigkeiten, wie zum Beispiel essen, geschehen nur noch nebenbei. Durch Ohrstöpsel isolieren wir uns auch von den Geräuschen unserer Umwelt. Wen kümmert es, ob da Vögel zwitschern, Insekten summen, Kinder weinen … ?

Der Preis für diese Annehmlichkeiten ist hoch: Wir entmündigen uns selber, indem wir Fertigkeiten an ein Gerät verlagern; der direkte Kontakt zu unseren Mitmenschen und zur Natur wird erschwert, wir spüren uns selber immer weniger und büssen die Fähigkeit zur Empathie ein. Ich vermute, dass die zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft auch damit zusammenhängen könnte.
Aus Studien weiss man, dass hoher Handykonsum sich negativ auf die Hirnreifung von Kindern auswirkt und dass ein Teil der Hirnmasse messbar schrumpft. Dies hat Konsequenzen für die Entwicklung der Sprach- und Schreibfertigkeiten, der Grobmotorik und der Konzentrationsfähigkeit.  Vermutet wird auch ein Zusammenhang mit Depressionen und Angststörungen bei Jugendlichen.

Doch wie finden wir wieder aus dieser Fehlentwicklung wieder heraus? Wie bei jeder Sucht ist es wichtig, unsere Abhängigkeit zu erkennen, indem wir beobachten, was ein Handy-Entzug mit uns macht. Danach gilt es Wege zu finden, wie wir das Allheilmittel Handy wieder zu dem machen können, was es eigentlich wäre: Ein Werkzeug, das wir gezielt einsetzen, wenn es für uns hilfreich und nützlich ist. Gleichzeitig sollten wir den direkten Kontakt zur Natur wieder stärken, indem wir ohne äussere Ablenkung, allein und ohne Handy, achtsam durch die Natur laufen und uns selber wieder wahrnehmen, indem wir üben, bewusst zu hören, zu schauen, zu riechen, zu schmecken und zu spüren.

Eine kleine Anekdote zum Schluss: Einst habe ich meinen Zuganschluss verpasst. Nach anfänglichem Ärger und automatischem Griff zum Handy habe ich beides weggesteckt, die mir geschenkte Auszeit begrüsst und meine Umgebung bewusst wahrgenommen. Da blieb ein älterer Passant stehen und teilte mir sein Erstaunen mit, einem wartenden Menschen ohne Handy zu begegnen. Es entstand ein spannendes Gespräch, das wohl kaum zustande gekommen wäre, wenn ich mich auf mein Handy konzentriert hätte.

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Mirjam Rigamonti

 

 

 

Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.

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