Eine Bewegung gegen das Maskentragen

Vor 40 Jahren wurde die Schweiz erschüttert. Nicolas Lindt erkennt in seinem Buch «Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom» über die Zürcher «Bewegung» Parallelen zur Gegenwart.

Der Kampf um das Autonome Jugendzentrum (AJZ) hinter den Hauptbahnhof Zürich hielt die Stadt ein Jahr lang ausser Atem (Foto: Patrick Lütghy, ETH Bibliothek).

Welche Ziele hatten die Bewegungen der letzten Jahrzehnte und Jahre? Es ging um soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Solidarität mit Benachteiligten, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung, Umwelt- und Klimaschutz, Kapitalismus und Korruption - in einem Wort: Es ging um das Ziel einer besseren Gesellschaft, einer besseren Welt.

Die Bewegung gegen die Corona-Massnahmen dagegen hat ein viel schlichteres Ziel: Sie fordert nicht mehr als die Wiederherstellung der demokratischen Rechte und der persönlichen Freiheit.

Damit steht sie völlig allein. In diktatorischen Verhältnissen - die wir hoffentlich noch verhindern können - hätte der Kampf um Freiheitsrechte Priorität. Doch in der demokratischen Schweiz müssen wir weit zurückblicken, um eine Bewegung zu finden, die nichts anderes wollte als Freiheit.

Doch unerwartet stossen wir auf das Jahr 1980. Es war das Jahr der Zürcher
«Bewegung».
Die «Bewegung» - sie nannte sich selbst so - hielt die Stadt ein Jahr lang in Atem, obwohl sie nur ein einziges Anliegen hatte: sie forderte freie Räume.

Sie forderte gewissermassen das Recht auf ein freies, von sozialen Zwängen und Vorschriften unabhängiges Leben. Und sie zielte mit ihrer Forderung auf eine alte Fabrik hinter dem Hauptbahnhof, die - gleichsam symbolhaft - zu einem selbstverwalteten Territorium erklärt werden sollte.

Um zu verstehen, was damals geschah, müssen jüngere Menschen wissen, dass Zürich vor 40 Jahren nicht die Metropole war, die sie heute ist. Es gab wenig attraktive Lokale, wo sich junge Erwachsene treffen konnten, und die wenigen, die es gab, schlossen um Mitternacht.

Auch für die lokale Musikszene gab es keine geeigneten Räume. Überall musste man bezahlen oder war unrwünscht, überall stiess man auf Einschränkungen, die nicht mehr zeitgemäss waren. Währenddessen boomte die City, immer neue Geschäftskomplexe und Einkaufstempel entstanden, Autobahnen wurden quer durch die Stadt gebaut, Luxusapartments verdrängten die zahlbaren Wohnungen:

Wer damals jung war und noch nicht das Bedürfnis hatte, ein nützliches Glied der bürgerlichen Gesellschaft zu werden, schlug sich in Zürich mit dem Gefühl durch, in der Bankenstadt keinen Platz zu haben.

Ein ganzes Jahr lang kam die Stadt nicht mehr zur Ruhe.

Als dann das Stadtparlament einen 60-Millionen-Kredit für das Opernhaus sprach, war das Mass voll. Die Frustration entlud sich am 30. Mai 1980 in einem Krawall, der Geschichte schrieb. Ein ganzes Jahr lang kam die Stadt nicht mehr zur Ruhe. Auf Druck der Strasse wurde die Fabrik hinter dem HB als Autonomes Zentrum eröffnet, wieder geschlossen, wieder geöffnet.

Die Krawalle rund um das AJZ nahmen kein Ende. An den Wochenenden war die City aus Angst vor der Bewegung wie ausgestorben. Ein Jahr lang gehörte die Innenstadt uns – und ich meine damit auch mich, denn auch ich gehörte zu den Bewegten. Unsere Zahl wuchs an Demonstrationen immer wieder auf mehrere Tausend, und Teenager waren genauso dabei wie ehemalige 68er.

«Schmelzt das Packeis – Freiheit für Grönland!» – Flugblätter mit surrealistischen Forderungen, eine Nacktbadedemo, nächtliche Sprayaktionen, der «Eisbrecher», eine Zeitung, wie es sie seither nie mehr gab: Phantasie und Radikalität prägten den Geist der «Bewegung».

Und weil die Ordnungskräfte so oder so zur Stelle waren, holten wir kaum je eine Bewilligung ein. 4’000 von uns wurden im Laufe des Jahres verhaftet, 1’000 Strafverfahren eröffnet. Der Ungehorsam forderte seinen Preis. Doch die Belohnung dafür war ein Lebensgefühl, das mich noch heute begleitet.

Die Stadt schien gespalten: Viele Zürcherinnen und Zürcher sympathisierten mit uns - während ebenso viele, eher etablierte Bewohner der Stadt über uns schimpften und die immer härtere polizeiliche Gangart begrüssten.

Wir empfanden sie als die «Bürger», die Angepassten, die ihre wahren Gefühle nicht lebten, sinnlos schufteten und gedankenlos konsumierten. Um einen Vergleich mit heute zu wagen: Sie waren für uns Menschen mit Masken - während wir, die «Bewegten», uns als die Maskenfreien verstanden. Sie gehorchten, während wir rebellierten.

Und vor allem wollten wir frei sein, uns in Freiheit entfalten – während sie sich nicht eingestanden, dass sie im Grunde ihres Herzens dasselbe wollten. Auch damals ging es um Angst auf der einen – und Mut auf der anderen Seite.

40 Jahre danach habe ich der «Bewegung» ein Buch gewidmet: «Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom». Meine darin enthaltenen Reportagen, Geschichten und Porträts, die ich mitten in jenem bewegten Jahr als junger Autor verfasste, sollen das Wesen der «Bewegung» und ihre Bedeutung verständlich und spürbar machen. Natürlich masse ich mir nicht an, die aktuelle schwierige Situation mit jener Zeit zu vergleichen. Doch der damals aufflackernde Freiheitsimpuls kann den FreiheitskämpferInnen von heute als kreative Inspiration und Ermutigung dienen.

Mein Buch erschien unmittelbar vor dem Lockdown. Zuerst dachte ich, es erscheine zum falschen Zeitpunkt. Doch inzwischen finde ich, der Zeitpunkt seines Erscheinens hätte nicht besser sein können. Denn wie schon der Titel sagt: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.

Nicolas Lindt: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom – Porträts, Geschichten & Reportagen aus dem Jahr der Zürcher ‹Bewegung› 1980/81.  Zürich, 2020, Verlag edition 8. 316 Seiten. Fr. 24.–/€ 20.80


Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas. https://www.nicolaslindt.ch