Eine Lehrerin rastet aus

Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

«Sie wird bis an ihr Lebensende unter ihrer Verfehlung leiden.» / © Pixabay

Im Oberstufenschulhaus der Aargauer Gemeinde Lengnau muss ein 13-jähriger Schüler für den Unterricht die Tür des Klassenzimmers ausmessen. Er verrichtet die Aufgabe widerwillig, empfindet sie offenbar als Zumutung und protestiert so laut und so provozierend, dass die Lehrerin – eine 61-jährige Frau – auf die Schulzimmertüre zustürmt und sie so brüsk aufreisst, dass die Türe den Schüler am Kopf trifft. Damit nicht genug: Sie verpasst ihm eine Ohrfeige und gleich eine zweite.

Unmittelbar danach ruft sie die Mutter des Schülers an, berichtet ihr das Geschehene und fragt die Mutter: «Was hätten sie denn in meiner Situation gemacht? Sie hätten ihm sicher auch eine Ohrfeige gegeben.» Die Mutter des Schülers jedoch wendet sich darauf an die Polizei und erstattet Anzeige.

Der emotionale Zustand der Lehrperson, der zu den Ohrfeigen führte, wird in der Nachricht nicht näher beschrieben. Es wird nur gesagt, dass ihr – wörtlich – der Kragen geplatzt sei. Doch ohne mehr darüber zu wissen, ist für mich klar, dass es hier nicht nur um einen geplatzten Kragen geht. Wenn eine 61-jährige Lehrerin einen 13-Jährigen nicht nur beschimpft, sondern schlägt, dann war sie verzweifelt. Dann war sie am Ende. Und wenn jemand am Ende ist und nur noch ausrasten kann, dann hat dieser Vorfall mit Sicherheit eine Vorgeschichte. Dann hat dieser Schüler – vielleicht auch zusammen mit anderen Schülern – die Lehrerin immer wieder zur Weissglut getrieben. Dann hat er ihr mit andern zusammen das Unterrichten möglicherweise zur Hölle gemacht.

Doch wie hat die Justiz, wie hat der Staat reagiert? Die Lehrerin wurde wegen wiederholter Tätlichkeit zu einer Busse von über 1000 Franken verurteilt, und die Verfahrenskosten wurden ihr ebenfalls auferlegt. Im Regionalfernsehen kommt der Leiter der Kinderschutzgruppe des Kantonsspitals Baden zu Wort, und natürlich verurteilt er das Verhalten der Lehrerin auf das Schärfste.

Auch national berichten die Medien über den Vorfall. Sie äussern ihr Befremden darüber, dass die Schulleitung die Lehrerin nicht gleich entlassen hat. Zur Entlastung der Verurteilten wird niemand befragt. Weder kommt ein Psychologe zu Wort noch ein Vertreter des Lehrerverbandes. Es fällt kein kritisches Wort, weder gegen das Urteil noch gegen die Eltern des Schülers, die für das Verhalten ihres Sohnes eine Verantwortung tragen. Nur die Lehrerin steht am Pranger.

Die 61-Jährige muss büssen für eine gesellschaftliche Entwicklung, an der sie nicht schuld ist. Seit Jahren und in letzter Zeit immer häufiger lesen wir von wohlstandsverwahrlosten, Unruhe stiftenden Schülern und überforderten Lehrern, von Gewalt auf dem Pausenplatz und von Eltern, die auf die Schule losgehen, sobald ihr Kind in irgendeiner Weise gemassregelt wird. Wir lesen aber auch von patriarchalisch erzogenen Migrantenkindern, die dem Leistungsdruck in der Schule nicht standhalten und ihre Defizite mit Machogehabe und Leistungsverweigerung kompensieren. Und es sind nicht mehr nur städtische Schulen, die mit schwierigen Schülern nicht fertigwerden. Auch auf dem Land, auch im aargauischen Lengnau gerät die gewachsene Welt aus den Fugen.

Erst vor wenigen Tagen legte der Dachverband der Lehrerschaft eine Studie vor, die belegt, wie häufig Lehrpersonen von Schülern beleidigt, beschimpft und bedroht werden. Und ich glaube, es genügt hier für einmal, von «Schülern» zu sprechen. Denn obwohl es ohne Zweifel auch Schülerinnen gibt, die den Lehrern das Unterrichten verleiden, bereiten vor allem die Buben Probleme. Aber die Meldung über den Vorfall in Lengnau erwähnt die Studie des Lehrerverbandes mit keinem Wort. Mit keiner Silbe wird daran erinnert, dass ein Lehrer heute unter dreifachem Druck steht: von Seiten der Schüler, von Seiten der Eltern und von Seiten der Schulbehörden, die sich den Weisungen des Kantons mehr verpflichtet fühlen als der einzelnen Lehrperson, die an der Front steht.

Die Lengnauer Lehrerin selbst wollte den Medien keine Auskunft geben, was ich begreife, denn ihr geht es bestimmt miserabel. Ich kenne sie nicht und weiss deshalb nicht, ob sie eine gute Lehrerin war. Aber ich darf davon ausgehen, dass sie bestimmt schon sehr lange im Schulbetrieb tätig ist. Und eine langjährige, gestandene Lehrperson wird nicht entlassen wegen eines einzigen Vorfalls. Das hat die Schulleitung so entschieden. Insofern stellt sie sich hinter die nun vorbestrafte Kollegin.

Trotzdem spielt sich hier eine menschliche Tragödie ab. Denn die 61-Jährige, die kurz vor ihrem Ruhestand steht, hat in all den Jahren bestimmt ihr Bestes gegeben. Nun wurde ihr ganzes pädagogisches und menschliches Engagement beschmutzt und wertlos gemacht – durch diesen einen Ausraster am Ende ihrer Unterrichtstätigkeit.

Es war nicht der Schüler, der sie mit seinem Verhalten zum Äussersten trieb. Es ist die Welt, in der wir gerade leben, die es geschafft hat, die Lehrerin in die Enge zu treiben, bis die Frau die Beherrschung verlor. Es ist die gegenwärtige Welt, die aus diesen zwei Ohrfeigen eine «wiederholte Tätlichkeit» macht. Während sich die Eltern des Buben im Recht fühlen können, wird die gebrandmarkte Lehrerin bis an ihr Lebensende unter ihrer Verfehlung leiden. Niemand wird sie öffentlich je entlasten.

Aber ich tue es. Denn auch mich hat ein Lehrer einmal geohrfeigt. Die Ohrfeige hat ein wenig gebrannt, aber ich wusste, warum er sie mir verpasste. Ich wusste es ganz genau und ich habe sie eingesteckt.