Favela da Paz– Slum des Friedens: Mit der Macht des Vertrauens

In einem Slum von São Paulo, mitten in einem Hotspot von Armut und Gewalt, treffen sich derzeit rund 30 Aktivisten aus Amerika, Afrika, Europa und Asien. Sie beraten, wie sie mit kreativen, friedlichen Mitteln Gewalt überwinden und Vertrauen erzeugen können. Der Gastgeber ist dafür ein gutes Beispiel.

(C) Wandgemälde im Instituto Favela de Paz

São Paulo ist eine Stadt mit extremen sozialen Unterschieden. Die Welt der Armen grenzt unmittelbar an die der Reichen. Viele denken, das Zentrum von São Paulo mit seinen Hochhäusern und Schaufenstern sei der sicherste Ort zum Leben. Aber das stimmt nicht, denn dort müssen die Menschen sich voreinander schützen. Für mich ist die Favela eindeutig die bessere Alternative. Sie liegt am Rande der Stadt, so sind wir der Natur näher, vor allem aber sind wir einander näher. 

Favela

Das Institut «Favela da Paz» entstand in einem Slum (brasilianisch: Favela) in São Paulo, der noch vor 20 Jahren als eine der gefährlichsten und gewalttätigsten Gegenden der Welt galt. Claudio und Fabio Miranda, Elem Fernandes, Paulo Torres und Alessandro «Pikeno» Neres wuchsen in diesem Slum auf und gründeten dort eine Band. Sie unterhalten ein Musikstudio, das sie der Jugend zur Verfügung stellen, um ihnen einen kreatives Ausdruck und eine positive und friedliche Lebensperspektive zu eröffnen. Vor etwas über zehn Jahren begannen sie, ihr Zentrum zu einem Modell für Nachhaltigkeit in Slums auszubauen. Mittlerweile schauen Menschen in ganz Brasilien auf das innovative Projekt. Ihre grosse Inspiration war die Gemeinschaft Tamera in Portugal.

In unserer Favela leben insgesamt 800.000 Menschen. Mit vielen Menschen auf so engem Raum zusammenzuleben, ist natürlich eine Herausforderung. Aber wir haben dadurch auch gelernt, zusammenzuarbeiten und zu teilen. Die Situation, in der wir leben, macht uns stark und kreativ! 

Die UN hat unsere Favela Jardim Ângela Ende der 90er Jahre als den gefährlichsten Ort der Welt bezeichnet. Ich bin in der Favela geboren, doch meine Eltern stammen aus dem Norden Brasiliens. Ich bin in einem Haus voller Freude und Liebe aufgewachsen. Mein Vater arbeitete jahrzehntelang als Bademeister in einem Schwimmbad. Als Kind sah ich ihn dort Gitarre spielen. Alle liebten ihn, auch die Menschen von ausserhalb des Slums. Er nutzte Musik, um Kontakt zu machen. Das bezauberte mich. Als ich neun Jahre alt war, fragte mein Vater, was ich einmal werden wolle. Ich sagte: «Musiker.» Seine Reaktion: «Dann werde Musiker.» Das war etwas Besonderes. Welcher Vater unterstützt seinen Sohn schon bei einem solchen Berufswunsch? Wenn ich zurückblicke, war es dieser Moment, der mir eine Welt der Freiheit öffnete. Ich bat meinen Bruder Fabio, der damals zehn Jahre alt war, uns Musikinstrumente aus Blechdosen und anderem Schrott zu bauen. Er war schon immer sehr geschickt in solchen technischen Dingen. Wir brachten uns selbst bei, auf diesen Schrott-Instrumenten Musik zu machen. Das war der Anfang einer grossen Leidenschaft. Ich probierte immer neue Instrumente aus. 1989 eröffneten wir ein Musikstudio und unterrichteten immer mehr Menschen aus der Favela. Musik bringt Menschen zusammen, dadurch konnten wir eine erste Schicht Vertrauen schaffen. 

Es ist beeindruckend, wie viele Menschen trotz aller Gewalt bereit sind, anderen zu helfen. Das funktioniert, weil wir uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen. 

Einmal gab es einen Bandenkrieg zwischen Drogendealern. Die Polizei schoss auf alle Beteiligten. Alle Bewohner mussten in ihren Häusern bleiben. Aber wir durften uns frei bewegen und haben mittendrin Musik gemacht. Auf diese Weise wurden wir im ganzen Slum bekannt. Wir lernten andere Aktivisten und Künstler kennen, und begannen, gemeinsame Aktionen zu planen. 

Favela

Ich denke, ich wurde in einem Slum geboren, weil ich dort eine Aufgabe habe. Und ich habe dort – in einem Leben voller Armut und Bedrohung – etwas beobachten können, was ich auch bei unseren Freunden in Kolumbien und Palästina wiedergefunden habe: Glück und Freude scheinen in allen Slums der Welt zu existieren! Wir können diese Werte nicht für Geld kaufen. Glück und Freude erleben wir nur, wenn wir anderen Menschen nahe sind, wenn wir mit ihnen teilen und kooperieren. Niemand kann uns das wegnehmen. Auf dieser Basis entsteht auch eine andere, solidarische Ökonomie. Wir teilen in der Favela mit viel Liebe das Wenige, das wir haben. Es geht nicht darum, viel für sich anzusammeln. Menschen, die selbst wenig besitzen, haben oft ein grosses Mitgefühl füreinander, und sie hören einander mit offenen Herzen zu. Es ist beeindruckend, wie viele Menschen trotz aller Gewalt bereit sind, anderen zu helfen. Das funktioniert, weil wir uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen. 

F

Wir haben angefangen, einen gewalttätigen Ort der Erde zu verändern.

Einmal kamen zwei Menschen in unser Musikstudio, denen man sofort ansah, dass sie viel Geld hatten und aus der Innenstadt von São Paulo kamen. Der Ältere bat mich, seinen Sohn zu unterrichten. Auf die Frage, was es kostet, sagte ich ihm, er solle mir einfach geben, was er möchte. Es sei für mich schon Bezahlung genug, dass sie zu uns in den Slum kämen, um Ausbildung zu erhalten. Das hat sie sehr berührt, und seitdem hatten wir eine besondere Verbindung. Einige Zeit später bekamen mein Vater und mein Onkel Prostata-Krebs. Eine Operation hätten wir uns niemals leisten können. Als der Vater dieses Schülers wieder einmal anrief und fragte, wie es meiner Familie geht, berichtete ich ihm von der Situation meines Vaters und Onkels. Es stellte sich heraus, dass er einer der besten Fachärzte des Landes für Prostata-Krebs war. Er sagte: «Bring mir deinen Vater und deinen Onkel» und operierte sie beide kostenlos. Beide leben heute noch. Das war ein Tausch auf der Basis von Freundschaft und Kooperation. 

Claudio

2009 lernte ich Tamera kennen. Das hat unser Leben sehr verändert. Die Menschen aus Tamera haben mich dann auch eingeladen, nach Kolumbien und Israel-Palästina mitzukommen. Ich habe dadurch viel gelernt. Heute fühlen wir uns vom Institut «Favela da Paz» als Teil einer globalen Gemeinschaft. Es gibt mir Kraft, ein Friedensaktivist zu sein. Friedensaktivist sein heisst: wir schlagen nicht zurück, wenn wir angegriffen werden. Das war und ist ein grosser Lernschritt - auch in meinem persönlichen Leben.

Ladonna

Die Allianz «Defend the Sacred»: Weltweit treten Menschen der globalen Gewalt entgegen, viele mit friedlichen, kreativen Mitteln. Einige von ihnen haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen. Ihr Name stammt von einer ihrer Gründerinnen: Ladonna Bravebull Allard aus Standing Rock. Die amerikanischen Ureinwohner verteidigten ihre Rechte und die Rechte der Natur, indem sie «das Heilige verteidigten». Die Allianz traf sich viermal in Tamera/Portugal und jetzt erstmals in Brasilien.

Wir sind zu einem Akupunkturpunkt in unserer Favela geworden – bzw. wir haben verstanden, dass wir immer schon ein Akupunkturpunkt waren, ohne es zu wissen. Wir arbeiten heute auch an nachhaltigen Lösungen für Energie und Ernährung und bringen ökologisches und technologisches Wissen in den Slum. In unserem Haus haben wir eine Biogasanlage und Solaranlagen installiert. Das macht andere Menschen neugierig. Wir kommen mit ihnen ins Gespräch. Mein Bruder Fabio war schon immer ein Erfinder, aber sehr schüchtern und zurückhaltend. Als er in Tamera die Geräte für erneuerbare Energien sah, hat ihn das unglaublich inspiriert. Heute verbreitet er diese Techniken (insbesondere Biogas) in ganz Brasilien, verändert sie und passt sie an, und ist sogar dabei neue Formen davon zu erfinden. Ich glaube mittlerweile, dass wir Teil eines grossen Plans sind. Wir können ihm gar nicht entkommen, selbst wenn wir wollten. 

Vegearte

Wir haben begonnen, uns über unsere Ernährung Gedanken zu machen, und meine Partnerin Elem hat daraufhin ein vegetarisches Ernährungsprojekt ins Leben gerufen, das «Vegearte». Dadurch ernährt sie nicht nur viele in der Favela, sondern sie verkauft auch Essen an grosse Firmen, bringt dieses Bewusstsein dort hin, und finanziert damit viele unserer Projekte. Während der Corona-Massnahmen konnten wir über unsere Kontakte und Infrastruktur viele Menschen mit Lebensmitteln versorgen. An vielen anderen Orten war Hunger ausgebrochen.

Vertrauen lässt dich an das Unmögliche glauben.

Und noch etwas wichtiges haben wir in der Allianz «Defend the Sacred» entdeckt: die Macht des kleinen Wortes namens Vertrauen. Vertrauen lässt dich an das Unmögliche glauben. Indem wir an das Unmögliche glauben, entdecken wir eine neue Welt. Vor vielen Jahren, ich war noch sehr jung, hatte mir jemand eine Pistole an den Kopf gehalten. Es war Nacht, ich war auf dem Rückweg eines Konzertes. Ich hatte in dem Moment überhaupt keine Angst und fühlte mich nicht als Opfer. Ich dachte, der mit der Pistole ist das Opfer des Systems. Es war einer dieser Momente, wo neben allem Adrenalin noch ein bisschen Platz ist für Gedanken. Ich habe mich gefragt, wie kommen wir beide friedlich aus dieser Situation heraus? Ich habe ihm gesagt, dass ich Musiker sei. Er meinte: «Dann mach' Musik!» Und so habe ich mitten in der Nacht mit einer Waffe an meinem Kopf Cavaquinho gespielt. Ich durfte ihn nicht anschauen. Ich wusste aber, dass ich den Raum mit Vertrauen füllen konnte. Nach einer Weile hat er tatsächlich die Waffe sinken lassen. Es war eine unglaubliche Erfahrung. 

Wir brauchen nicht gegen die Gewalt zu kämpfen, denn dadurch schaffen wir nur Trennung. Wir müssen verstehen, wie wir die Macht des Vertrauens nutzen können. Wir haben angefangen, einen gewalttätigen Ort der Erde zu verändern. Wenn wir wollen, können wir zusammen die ganze Welt heilen. Es hängt ganz davon ab, wie sehr wir uns selbst und anderen vertrauen.

 

Stuart

Tagebucheintrag von Teilnehmer Stuart Basden, Grossbritannien, Mitgründer von Extinction Rebellion: 

«Heute war der erste Tag der Versammlung. Die Menschen aus dem Instituto Favela da Paz (Slum des Friedens) stellten sich selbst, ihre Geschichten, Projekte und Träume vor. Besonders berührt hat mich die Tatsache, dass sie die Drogendealer in dieser Gegend durch Musik, Kunst und lokale Verhandlungen für eine informelle Vereinbarung gewinnen konnten, keine Waffen zu tragen. 

Es hat mich auch tief berührt zu hören, wie die Leute im Instituto eine kostengünstige Biogastechnologie entwickelt haben – nach dem Vorbild von Tamera, dem Ökodorf in Portugal –, die sich in der Favela und im Regenwald verbreitet hat. Im Amazonasgebiet ist Kochgas sehr teuer, und die Menschen müssen oft einen langen Weg flussabwärts zurücklegen, um das Gas zu bekommen, was dazu führt, dass Mütter ihre Töchter in die Sexarbeit schicken, um das Gas zu bezahlen. Wir hörten die Geschichte, dass einige der Mütter, als sie die erste Flamme aus ihrer neuen Biogastonne sahen, Tränen der Erleichterung weinten, weil sie wussten, was ihren Töchtern dadurch erspart bleiben würde.

Wir erfuhren, wie sie zusammenleben, mit dem gemeinsamen Ansatz, dass «Knappheit das Anhäufen von Dingen ist, Fülle der Fluss». Sie teilen die Spenden und Einnahmen untereinander teilen. Niemand, der hier lebt, wird bezahlt. Damit sind sie hier in den Favelas mit etwas erfolgreich, das in meiner Heimat nahezu unmöglich erscheint.