Kollektives Trauma heilen
Kosha Joubert** ist Geschäftsführerin des Pocket Projects – einer von Thomas Hübl* initiierten Organisation, die weltweit Heilungsprozesse für kollektives Trauma erforscht, anstösst und anleitet. Ich wollte von ihr wissen, wo unsere derzeitige gesellschaftliche Situation, vor allem in Deutschland, durch ein kollektives Trauma erzeugt wurde und ob kollektives Trauma heilbar ist. (Erster Teil des Interviews, der zweite folgt am Donnerstag.)
Zeitpunkt: Auf der Webseite des Pocket Projekt steht euer Ziel: Den Wandel von einer trauma-erzeugenden über eine trauma-informierte zu einer trauma-sensiblen und sogar trauma-integrierenden Gesellschaft. Es gibt dort ein Bild von geschichteten Eisbergen. Kann man sagen, dass das kollektive Trauma die Gesellschaft durchzieht wie eine Eisschicht?
Kosha Joubert: Genau. Die Eisschichten sind die Schichten im Körper einer Gesellschaft, die nicht mehr lebendig sind und warm durchströmt werden. Ein Trauma – sowohl individuell als auch kollektiv – entsteht, wenn ein Ereignis zu intensiv ist, als dass wir es verarbeiten könnten. Die Energieladung kann in unserem Nervensystem nicht verdaut und integriert werden und abfliessen. Statt dessen bildet sich eine Art Blase von abgetrennter Energie, die in das Unbewusste geschoben wird.
Ganze Gesellschaften lassen bestimmte Erfahrungen ins Vergessen rutschen, weil sie zu schlimm waren, um verarbeitet werden zu können.
Wir kennen das vielleicht alle, wenn plötzliche von dort eine Erinnerung auftaucht, die wir viele Jahre vergessen hatten, weil sie für uns als Kind zu schlimm war. Und genauso wie im individuellen Erleben geschieht es auch im kollektiven Gedächtnis. Erlebnisse, die ein ganzes Land berühren, können ein kollektives Trauma auslösen. Ganze Gesellschaften lassen bestimmte Erfahrungen ins Vergessen rutschen, weil sie zu schlimm waren, um verarbeitet werden zu können. Und unter den eingefrorenen Landschaften liegen weitere historische Schichten von kollektiven Traumata. In diesem eingefrorenen Boden wurzelt unsere heutige Gesellschaft.
Wenn wir da hinein geboren werden, spüren wir als Kinder: Wenn ich in eine bestimmte Richtung nachspüre, kommt mir eine Wand entgegen, da wird geschwiegen. Das ist dann vergleichbar mit einer Eisschicht. Erlebnisse, die ein ganzes Land berühren, können ein kollektives Trauma auslösen. Das haben viele Kinder, die im oder nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland oder Österreich aufgewachsen sind, erlebt. Wenn diese Blasen, also die unbewussten Ebenen – wieder berührt werden, durch Worte oder Erlebnisse, dann reagieren wir als Kollektiv oftmals mit Selbstschutz, um uns dort vor der schmerzhaften Erinnerung zu schützen. Das ist im Grunde eine intelligente Reaktion. Denn es war ja tatsächlich zu viel, zu schmerzhaft.
Solche Reaktionen aus Selbstschutz, worunter auch die kollektive «Absenz» und emotionales Einfrieren fallen, führen aber dazu, dass Lösungen und Kreativität an diesen Stellen nicht in die Gesellschaft einströmen können. Und unter den eingefrorenen Landschaften liegen weitere archäologische Schichten von kollektiven Traumas. Das ist die emotionale Landschaft unserer Gesellschaft.
Zur Orientierung können wir unsere Familien, Organisationen und Gesellschaft mit der Frage betrachten: Wo sehe ich Dinge, die in Fluss sind? Die kreativ und innovativ sind, wo Potentialentfaltung stattfindet? Und wo sehe ich die Bereiche, wo Apathie, Depression, Eingefroren-Sein, aber auch sich stereotyp wiederholte Reaktionsmuster oder eine überstarke Bürokratie die Kreativität einengen? Wenn wir das unterscheiden lernen, ist das der erst Schritt in Richtung Trauma-Sensibilität. So beginnt eine Bewusstwerdung.
Durch aktuelle, nicht integrierte Krisen entsteht ein starker Druck auf ältere, nicht verarbeitete, kollektive Traumata, und sie werden aktiviert.
Zeitpunkt: In Deutschland – in geringerem Masse auch in anderen Ländern – verstärkt sich die gesellschaftliche Spaltung. Man spricht nicht mehr miteinander. Man erträgt kaum noch andere Meinungen. Was ist geschehen? Und hat das auch mit dem Kriegstrauma zu tun?
Kosha Joubert: Im letzten Jahrzehnt wurden wir von Krisen geschüttelt – der Krieg in Syrien, die Flüchtlingsströme, dann Covid, der Klimawandel, der mit Dürren, Fluten und Waldsterben auch in Deutschland stark spürbar ist. Und dann kommt der Ukraine-Krieg und wieder Flüchtlingsströme obendrauf. Dadurch entsteht ein starker Druck auf ältere, nicht verarbeitete, kollektive Traumata, und sie werden aktiviert. Das erleben wir im Moment.
Es sind dann vielleicht gute Absichten da, z.B. ein Willkommen gegenüber den Menschen, die einem Krieg entfliehen, aber es fehlt an tatsächlicher Integrationsfähigkeit. Um integrieren zu können, braucht es einen gesunden und kreativen Körper. Wenn der kollektive Körper aber stark vernarbt und mit sich beschäftigt ist, ist er weniger integrationsfähig.
Zu diesem Thema haben wir im letzten Jahr gemeinsam mit «Mehr Demokratie» ein Projekt durchgeführt: «Kollektives Trauma und Demokratie». Den wissenschaftlichen Bericht darüber kann man jetzt herunterladen. Wir haben darin die Zusammenhänge von Polarisierung, Spaltung und Verlust an demokratischem Dialog mit kollektivem Trauma erforscht.
In einem mehrtägigen Gruppenexperiment mit 350 Teilnehmern haben wir in einem grossen Integrationsprozess polarisierte Meinungen zu Themen wie Covid, Klimawandel, Flüchtlingsströme, Krieg angesprochen. Wir wollten schauen, was kommt da hoch. Was liegt darunter? Was entsteht, wenn wir an die Wurzeln der Spaltung gehen und dort eine historische Gegebenheit gemeinsam anerkennen und verdauen – eine Kohärenzbewegung im Gesamtfeld?
Es gab sehr berührende Momente. Eine Frau hatte etwa den Mut zu erzählen, dass – wann immer sie ukrainische Flüchtlinge am Bahnhof ankommen sieht – bei ihr alles zusammenzieht. Es waren wie Anfänge einer Fremdenfeindlichkeit.
Eine trauma-informierte Politik wird also nicht nur die Oberfläche sehen, sondern in die Tiefe gehen und schauen, was steckt hinter den polarisierten Meinungen.
Sie konnte sich dann mit Hilfe der Zeugenschaft der Gesamtgruppe tiefer einfühlen – und landete bei der Erinnerung, dass sie selbst aus einer Familie stammt, die nach dem Krieg aus dem Osten geflüchtet ist. Das ruft unbewusste schmerzhafte generationsübergreifende Erinnerungen in ihr wach, die sie kaum ertragen kann.
In diesem Moment der Erkenntnis wurde etwas weich – sowohl in ihr als auch in der ganzen Gruppe. Statt der Scham, jetzt bei Fremdenfeindlichkeit ertappt zu werden, kam Verständnis. Ihr Herz brach auf, sie konnte trauern über den Schmerz, den in diesem Fall die Mutter und die Familie erlebt hatten. Das ist ein Beispiel dafür, wie durch gemeinsam gehaltenes Trauern eine erste Integration stattfinden kann.
Eine trauma-informierte Politik wird also nicht nur die Oberfläche sehen, sondern in die Tiefe gehen und schauen, was steckt hinter den polarisierten Meinungen, die so viele Menschen so vehement vertreten.
Zum Beispiel die Ost-West-Spannungen, die in Deutschland stark sind: Gab es jemals eine wirkliche Integration von Ost und West oder ist es eher so, dass Ostdeutschland von Westdeutschland eingenommen wurde? Das ist z.B. eine Frage, an der sich viele Spannungen entzünden. Erst wenn wir bereit sind, da tiefer hineinzuspüren, kann ein tieferer Dialog entstehen und mehr Mitmenschlichkeit in die Politik einziehen.
Trauma-informierte Frauenkraft:
Bitte schliesse dich uns im Sommer 2023 (Mai - September) an, wenn wir unser Potenzial als Frauen entfalten, die es wagen, in Räume einzutreten, in denen sich Liebe und Macht treffen. Die Welt ruft uns dazu auf, unsere Verbundenheit zu vertiefen, mit uns selbst und miteinander, mit Teams und Vorfahren, mit Würde und Demut, mit Erde und Himmel, mit Vergangenheit und Zukunft. Jeder von uns kann zu einem Brennpunkt für Kohärenz und Sicherheit werden. Jeder von uns kann beginnen, heilende Architekturen um uns herum zu schaffen. Mehr dazu hier.
Während wir den Inhalt des Kurses weiter gestalten (mit einer Reihe brillanter Redner, die bald bekannt gegeben werden), hilf uns bitte, deine Interessen und Wünsche zu verstehen. Wonach sehnst du dich am meisten? Was würdest du gerne lernen und erfahren? Mit wem würdest du gerne lernen?
Zum FRAUEN-FRAGEBOGEN
Dieser Fragebogen ist nur 10 Tage lang geöffnet, vom 8. bis 18. März 2023.
Kosha Anja Joubert** ist Geschäftsführerin des Pocket Project, das sich für die Wiederherstellung einer fragmentierten Welt einsetzt, indem es persönliche, überlieferte und kollektive Traumata aufarbeitet und heilt.
Sie hat eine Ausbildung in Organisationsentwicklung, ist eine erfahrene Moderatorin, Coach und Beraterin und hat umfassend in den Bereichen Systemregeneration, interkulturelle Zusammenarbeit und traumainformierte Führung gearbeitet. Kosha ist in Südafrika unter der Apartheid aufgewachsen und hat sich seither der transformatorischen Bildungsarbeit verschrieben. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und erhielt den Dadi Janki Award (2017) für den Einsatz von Spiritualität im Leben und bei der Arbeit sowie den One World Award (2020) für ihre Arbeit beim Aufbau des Global Ecovillage Network zu einer weltweiten Bewegung, die über 6000 Gemeinschaften auf allen Kontinenten umfasst.
* Thomas Hübl, geb. 1971, ist ein Mystiker und spiritueller Lehrer, der die wichtigsten Lehren der grossen Weisheitstraditionen mit Erkenntnissen der modernen Wissenschaft verbindet.
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Trauma oder Posttraumatische Belastungsstörung
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