Der Mensch als Pestizid-Endlager
Im vierten Teil unserer Pestizid-Serie beleuchtet der Bieler Arzt Jérôme Tschudi das Thema aus medizinischer Sicht: Wie giftig sind Pestizide tatsächlich und was richten sie in unserem Körper an?
Jérôme Tschudi untersucht schon seit Jahren die gesundheitlichen Auswirkungen von Pestiziden. In verschiedenen Fachartikeln zeigt er auf, dass wir die Rückstände der giftigen Substanzen nicht nur über den Konsum von gespritzten Lebensmitteln einnehmen, sondern auch über Luft und Wasser. Besonders ausgesetzt sind dabei Menschen, die in der Nähe landwirtschaftlicher Gebiete leben.
Eins der grossen Probleme besteht darin, dass synthetische – das heisst künstliche, von der Agroindustrie entwickelte – Pestizide nur schwer abbaubar sind, sich in den Böden anreichern und dadurch ins Grundwasser gelangen. «Da wir erst seit gut 80 Jahren mit Pestiziden experimentieren, können wir noch keine abschliessenden Aussagen zu den Abbauzeiten und Langzeitwirkungen machen», betonte Tschudi an einem Vortrag der IG Gesund in die Zukunft Ende April.
Um einen Eindruck zu vermitteln, wie giftig Pestizide sind, führt Tschudi verschiedene Beispiele an. Die so genannten Organophosphor-Pestizide gegen Insekten wurden aus den Substanzen Tabun und Sarin entwickelt, die ursprünglich als Kampfstoffe für Bomben und Granaten eingesetzt wurden. Rückstände dieser Pestizide werden bereits von ungeborenen Kindern im Mutterleib aufgenommen und können zu Intelligenzverlust führen. Allein in der EU verursachen die Folgen dieser Pestizide laut Tschudi Gesundheitskosten von jährlich 125 Milliarden Euro.
Die «jüngste» Pestizidgruppe, die in den 90er Jahren auf den Markt kam, sind die so genannten Neonikotinoide. Diese sind so giftig, dass eine Dosis von 0,000000000001 Gramm eine Biene innert Tagen tötet. Und dies ist kein hypothetischer Fall, sondern alltägliche Realität. Denn Pestizide, die eigentlich dem Schutz der Nutzpflanzen dienen sollen, lassen sich nicht so spezifisch einsetzen, dass sie nur Schädlinge töten. «Sie wirken auf alle Lebewesen», sagt Tschudi, «auch auf Nützlinge, und zwar auf diese ganz besonders, weil sie sensibler sind.» Schädlinge können resistent gegen Pestizide werden, doch Bienen und andere Insekten sind ihnen schutzlos ausgeliefert.
In der Schweiz sind 350 verschiedene synthetische Pestizide auf dem Markt, mit verschiedenen Untergruppen wie Insektizide (Insektenschutzmittel), Herbizide zur Unkrautbekämpfung oder Fungizide zum Abtöten von Pilzen oder Sporen. Zulassungsverfahren sollen sicherstellen, dass die Pestizide uns nicht schaden, doch laut Tschudi schützen uns die gesetzlichen Grenzwerte nur ungenügend. Besonders gefährlich ist ausserdem die Kombination verschiedener Pestizide, deren Auswirkungen man nicht abschätzen kann und die in den Zulassungsverfahren nicht überprüft werden.
Als direkte gesundheitliche Folgen von Pestiziden nennt Tschudi unter anderem Hirnschäden wie Parkinson, Demenz oder ADHS, Missbildungen wie offener Rücken, Krebs, Diabetes, Allergien und Multiple Sklerose, aber auch Fruchtbarkeitsschäden. «Nur noch 35 Prozent der Rekruten in der Schweiz weisen normales Sperma auf», sagt Tschudi. «Der Rest hat bereits abgeänderten Samen und somit eine eingeschränkte Fruchtbarkeit.» Mädchen dagegen kommen immer öfter früher in die Pubertät, was ebenfalls auf die hormonelle Wirkung gewisser Pestizide zurückzuführen ist.
Dies bestätigt auch eine Studie aus Dänemark, wie Anders Juul, der Leiter der endokrinologischen Forschung des Rigshospitalet in Kopenhagen, in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen erklärt. «Ich habe allen Grund zur Annahme, dass hormonaktive Substanzen wie Pestizide eine wichtige Rolle bei der Auslösung der vorzeitigen Pubertät spielen.» Zu diesem Schluss gekommen ist Juul durch ein Experiment, bei dem zwei Gruppen von schwangeren Frauen verglichen wurden: Die einen arbeiteten in Gewächshäusern und waren täglich Pestiziden ausgesetzt, die anderen arbeiteten in einem Büro. Die Töchter der Gewächshausarbeiterinnen entwickelten im Schnitt ein Jahr früher Brüste als die der Büroangestellten.
«Der Mensch ist ein Endlager für Pestizide», so das Fazit von Tschudi. Wir vergiften uns also selbst, oder besser gesagt: Die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, die den Einsatz von Pestiziden weiterhin zulassen, vergiften die Weltbevölkerung, die nicht viel dagegen machen kann. Denn essen, trinken und atmen müssen wir alle.
In dieser Serie bereits erschienen:
Wir wissen nicht, was wir essen
Der Einsatz von giftigen Substanzen geht mir emotional gegen den Strich
In Zukunft wird man kopfschüttelnd zurückblicken
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