Wahrheit und Wissenschaft – drei Fragen nach der Erkenntnis von Welt und Sein

Haben und Sein: Die Auflösung unseres Lebens und Seins in Daten ist in ihrem Kern eine Bestrebung, die aus Angst und Panik heraus agiert. Der «Dataismus», den wir haben – und im Grunde haben wir damit ein «Garnichts» – gibt vor, jegliche Ideologie zu canceln, ist jedoch selbst eine unipolare Ideologie. Diese führt zu einem Totalitarismus in allen Lebensbereichen. Das Individuum mutiert darin zu einem biotechnologisch optimierten, von Sein entleertem Geschöpf. Aus der Serie: «Vom Geschöpf zum Schöpfer» von Andreas Beers. Teil 2.

Michelangelo Buonarroti. Die Erschaffung Adams (Detailausschnitt) / © Foto: Mia Leu

Alles hat seine Zeit: Fragen brauchen ihre Zeit, Antworten brauchen ihre Zeit. Entschleunigung war die erste Massnahme auf meinem Weg zum Bewusstwerden von Welt und Sein. Durch das Arbeiten in der Natur formte sich diese innere Haltung in mir. Mit ihr erforsche ich die drei «Kardinal-Fragearten», wie ich sie nenne, zur Erkenntnis nach dem Sinn oder Sein des Lebens: «Was», «wie» und «warum» etwas ist. Die Natur zeigt uns auf, was Bewegung ist: Säen braucht seine Zeit, Wachsen hat seine Zeit, Ernten braucht seine Zeit. Erde und Menschen sind keine Datenautobahnen, auf denen beschleunigt und vollgebremst wird oder wo man dauernd im Stau sitzt. Genau so verhalten wir uns jedoch mit unseren wissenschaftlichen Weltanschauungen beziehungsweise Meinungen. Big Data und seine Anhänge(r) sind Beschleuniger dafür. In der virtuellen Welt mag dies lustig, im wahren Leben kann es tödlich sein.

Eine moderne Wissenschaft sollte sich tief empfindend, aber emotionslos mit den Grundfragen des Lebens auseinandersetzen: Was ist Leben, was ist Geburt und was ist Tod? Oder anders ausgedrückt: Was ist Materie und Welt, und damit verbunden: Was sagt die Genesis darüber? Was ist das menschliche Leben in dieser Welt, sprich das Hereinkommen des Menschen in diese Welt durch Zeugung und Geburt? Und als drittes die Frage nach der menschlichen Freiheit im Kontext von Tod und Reinkarnation. Diese Fragen implizieren eine dreifach strukturierte Wissenschaft: Die Wissenschaft der Materie, die Wissenschaft des Lebendigen und die Wissenschaft des Geistes. Die Berücksichtigung der genannten Fragearten – was ist, wie ist es, und warum ist es – in genau dieser Reihenfolge, und die Gesinnung, die wir dabei einnehmen, sind entscheidend für den Erkenntnisweg in diesen drei Wissenschaften. Der österreichische Philosoph Rudolf Eisler bezeichnet Gesinnung treffend als «Sinnesweise, Willenshabitus, dauernde Willensrichtung, die Motivation des Handelns in ethischer Hinsicht, die gefühlsbetonten Vorstellungen, aus denen der Wille entspringt».

Objektivität und Wahrheit sind irrtümliche Haltungsvorgaben in unserer tonangebenden Wissenschaft. Sie erforscht das Lebendige in der toten Materie und findet sie nicht. Das Geistige hat sie aus dem Fokus der Forschung als Störfaktor ausgeschlossen und wurde dadurch sinnentleert. Diese Haltung müssen wir verändern, sonst führt sie nachweislich ins Verderben, in die «Hölle auf Erden». Notwendig ist dies: selbstständiges Denken, eine vorurteilsfreie Beobachtung sowie die daraus resultierende, vertrauensbildende Erfahrung und Gewissheit in ihrer Reflexion und Anwendung auf das Leben. Dies führt zu einer das Bewusstsein erweiternden Erkenntnis von Materie, Leben und Geist. Erforderlich ist also die richtige Fragestellung und nicht die unreflektierte Anhäufung von Megadaten und das Postulieren von moralinsauren Wahrheiten, die jeglicher Lebensrealität Hohn sprechen. 

«Der Dataismus führt zu einem digitalen Totalitarismus. Notwendig ist daher eine dritte Aufklärung, die uns darüber aufklärt, dass die digitale Aufklärung in Knechtschaft umschlägt. Jedes Dispositiv, jede Herrschaftstechnik bringt ihre eigenen Devotionalien hervor, die zur Unterwerfung eingesetzt werden. Sie materialisieren und stabilisieren die Herrschaft. Devot heißt unterwürfig. Das Smartphone ist eine digitale Devotionalie, ja die Devotionalie des Digitalen überhaupt. Als Subjektivierungsapparat fungiert es wie der Rosenkranz, der in seiner Handlichkeit auch eine Art Handy darstellt. Sie dienen beide zur Selbstprüfung und Selbstkontrolle. Die Herrschaft steigert ihre Effizienz, indem sie die Überwachung an jeden Einzelnen delegiert. Liken ist digitales Atmen. Während wir auf «Like» klicken, unterwerfen wir uns dem Herrschaftszusammenhang. Das Smartphone ist nicht nur ein effektiver Überwachungsapparat, sondern auch ein mobiler Beichtstuhl. Facebook ist die Kirche, die globale Synagoge (wörtlich «Versammlung») des Digitalen.» So der deutsch-koreanische Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor Byung-Chul Han in seinem Buch Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken.

Wahrheit und Wissenschaft heute und die aktuelle Woke-Culture zeigen, dass wir an einer Art Nullpunkt des Geistes angelangt sind. Dieser Umstand ist die Ursache für den Zustand unserer heutigen Welt. Sie besteht nämlich nicht aus Daten, sondern aus Materie, Leben und vor allem aus Geist. Eine moderne und freie Wissenschaft muss diese drei Ebenen mit der jeweils dafür richtigen Methode erforschen. Nur dies macht Sinn. Und die Erkenntnis über die Sinnhaftigkeit des Lebens schafft allein Vertrauen ins Sein. Es ist längst überfällig, dass wir uns wieder die wichtigsten Fragen, entschleunigt, in der richtigen Reihenfolge stellen. 

In dieser Serie bereits erschienen:
Teil 1. Wir glauben alles, wissen nichts und haben die Wahrheit gepachtet

-----

Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Die Freiheit ist im Grunde ein Beziehungswort. Man fühlt sich wirklich frei erst in einer gelingenden Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein mit anderen. Die totale Vereinzelung, zu der das neo- liberale Regime führt, macht uns nicht wirklich frei.» (Byung-Chul Han)