Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt

…die einzige Landemöglichkeit, die in Frage kam: die Azoren. Bild: Lajes Air Base / © Wikipedia

In Florida war das Flugzeug gestartet. An Bord des ausgebuchten Fluges lauter Ferienheimkehrer, die den Jahreswechsel an Floridas Sonne verbracht hatten, unter ihnen eine Bekannte von mir. Unter ihnen auch ein älterer Mann, der so beleibt war, dass er fast zwei Sitze für sich allein brauchte. Man konnte ihn nicht übersehen, erzählte mir meine Bekannte. Sie sass nur wenige Reihen von ihm entfernt, und der Mann beschäftigte sie. Er wirkte nicht glücklich. Er schien gefangen in seinem unendlich massigen, aus den Fugen geratenen Körper, und sein Atem ging schwer. Sie hatte ihn schon in der Abflughalle, in der Raucherlounge sitzend und rauchend, bemerkt.  Das Flugzeug hatte er nur an Stöcken erreichen können. Es ging ihm nicht gut.

Als sich weit unter dem Flieger bereits das grosse atlantische Meer erstreckte, verschlechterte sich sein Zustand. Die Cabin Crew fragte über den Bordlautsprecher, ob sich unter den Passagieren ein Arzt befinde. Ein Arzt meldete sich. Er begab sich zu dem beleibten Mann, unterhielt sich leise mit ihm, mass seinen Puls und besprach sich darauf mit der leitenden Flight Attendant. Nach kurzer Beratung mit den Piloten wandte sich die Chef-Stewardess über den Lautsprecher erneut an die Passagiere.

Da zu befürchten sei, so erklärte sie, dass sich das Befinden des Mannes weiter verschlimmern werde, könne ein Weiterflug bis zurück in die Schweiz nicht verantwortet werden. Der Passagier sei dringend angewiesen auf medizinische Hilfe. Man sehe sich deshalb gezwungen, die nächstbeste und einzige Landemöglichkeit anzusteuern, die aktuell in Frage komme: die Azoren.

Es schien in diesem Moment, als wären die Azoren genau für solche Situationen geschaffen worden. Sie sind die einzigen Inseln mitten im grossen Meer des Atlantiks, und sie waren jetzt die einzige Chance für den offenbar schwerkranken Mann, gerettet werden zu können.

Die Überraschung im Flugzeug über das soeben Gehörte war gross. Ein Raunen ging durch die Reihen der Passagiere, ein Stimmengemurmel hob an, und auch meine Bekannte wurde von ihrem Sitznachbarn darauf angesprochen, wie sie die Nachricht aufnahm. Sie fand es einerseits spannend, unplangemäss auf den Azoren zu landen, aber auch ein wenig beunruhigend, und natürlich dachte sie auch an die Verzögerung, die durch die Zwischenlandung entstehen würde.

Das überlegten sich wohl die meisten der Ferienheimkehrer. Mit mindestens zwei Stunden Verspätung musste man rechnen. Und meine Bekannte war bestimmt nicht die einzige, der es durch den Kopf ging, dass die Zwischenlandung nur aus dem einen Grund nötig war, weil dieser schwergewichtige Mann vermutlich und offenkundig so ungesund lebte, dass sein missbrauchter und verwundeter Leib zu streiken begann.

Trotzdem war kein Unmut, keine Verärgerung unter den Passagieren zu spüren. Niemand reklamierte, niemand beschwerte sich bei der Cabin Crew, alle zeigten - wenn auch widerwillig - Verständnis für den Patienten und den Entscheid der Besatzung. Und die meisten der Passagiere versuchten nicht gleich wieder zu schlafen, sondern verfolgten mit einiger Neugier, wie man sich eine unvorhergesehene Landung auf den Azoren vorstellen musste.

Das Flugzeug flog indes nicht die Hauptinsel an, sondern eine der kleineren Inseln, und der Blick aus dem Fenster zeigte meiner Bekannten, dass der Flugplatz ein Militärflugplatz war, auf dessen Rollfeld auch grössere Flieger aufsetzen können. Ein Krankenwagen stand schon bereit, und der Patient, der sich inzwischen nicht einmal mehr aus eigenen Kräften erheben konnte, wurde mit einem Rollstuhl aus dem Flugzeug gebracht.

Nach einer längeren Zeit des Wartens folgte die Mitteilung, dass die Maschine nun wieder starten werde. Der Pilot persönlich dankte den Passagieren für ihre Kooperation und Geduld. Es war ein Dank, den die Passagiere verdienten. 200 Menschen respektierten hoch über dem Atlantik, dass ihr schwergewichtiger Mitmensch mit seiner Gesundheit fahrlässig umgeht. 200 Ferienheimkehrer beschwerten sich nicht darüber, dass dieser einzelne Passagier durch seine offensichtlich gesundheitsschädliche Lebensweise ein ganzes Flugzeug nötigte, seinetwegen zwischenzulanden. 200 Menschen anerkannten, dass jeder zwar seines eigenen Glückes Schmied ist, dass nicht jeder Mensch aber im Schmieden seines Glückes so glücklich ist. 200 Menschen halfen mit ihrem Verständnis, dass der schwergewichtige Mann, der sein Leben im Grunde zerstören will, in einem Krankenhaus auf den Azoren noch einmal eine Chance erhält. 200 Menschen wünschten ihrem glücklosen Mitmenschen gute Besserung.

Der Mann hat über dem atlantischen Meer eine Botschaft des Lebens erhalten. Nicht die erste wahrscheinlich, aber diesmal eine recht deutliche. Eine Botschaft von 200 Menschen. Er hat sie hoffentlich nicht nur gehört, sondern verstanden.