Swisscom und 5G: «Irreführende Informationen»
«Irreführende Informationen und Argumente zum Mobilfunk verunsichern weite Teile der Öffentlichkeit», schreibt die Swisscom in einem Brief an sämtliche Gemeinden der Schweiz. Ihr «Gemeindebrief» enthält aber selber nachweislich falsche Informationen.
Der Kampf um die Deutungshoheit der komplizierten Mobilfunktechnologie und ihrer Risiken wird hart geführt – und schnell: Am Tag der Veröffentlichung des Berichts der Arbeitsgruppe «Mobilfunk und Strahlung» vom 28. November verschickte die Swisscom einen fünfseitigen «Gemeindebrief», offenbar im Bemühen, die rund 800 blockierten Baugesuche für die Aufrüstung von Mobilfunkantennen auf den 5G-Standard wieder in Gang zu bringen. «Kein Grund für Moratorien», schreibt die Swisscom, «Unsicherheiten oder offene Fragen in Bezug auf die Bewertung liegen keine mehr vor».
Das sehen zumindest einige Kantone anders, u.a. Genf und Waadt. Sie haben bereits angekündigt, ihre 5G-Moratorien nicht zu lockern. Der strittige Punkt ist die Bestimmung der Grenzwerte der neuen adaptiven Antennen, die je nach Nutzung in Richtung und Stärke variabel senden.
Um diese neuen Antennen ohne Erhöhung der Grenzwerte zu ermöglichen, hat der Bundesrat im April 2019 die Verordnung über den Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung» (NISV) revidiert und ein neues Messverfahren eingeführt. Nicht mehr Höchstwerte sollen für die Bestimmung der Grenzwerte massgeblich sein, sondern zeitliche und räumliche Mittelwerte. Die Art der Messung und der Berechnung der Mittelwerte hat der Bundesrat aber an das Bundesamt für Umwelt delegiert, das sie in einer noch ausstehenden «Vollzugshilfe» präzisieren soll.
Ob diese strittigen Mittelwerte überhaupt sachgerecht sind – auch bestehende Antennen senden je nach Nutzung unterschiedlich stark – und wie sie berechnet werden sollen, lässt der Bericht jedoch offen. Trotzdem schreibt die Swisscom den Gemeinden, «das Ausstehen des Berichtes als Argument für Moratorien und Sistierungen von Baugesuchen für 5G-Anlagen heranzuziehen, war inhaltlich falsch und ist nun gegenstandslos geworden.»
Da die umstrittenen Mittelwerte aber für die Einhaltung des Vorsorgeprinzips entscheidend sind, haben die Kantone Waadt und Genf ihre Moratorien einstweilen nicht aufgehoben. Zum Verhalten von Gemeinden mit blockierten Baugesuchen liegen noch keine zusammenfassenden Informationen vor.
Während das Verschweigen relevanter Sachverhalte im Informationsgeschäft von heute noch als Kavaliersdelikt durchgehen kann, muss die Verbreitung von Falschinformationen strenger bewertet werden, insbesondere wenn ein Konzern wie die Swisscom betroffen ist, der zu 51 Prozent dem Staat, d.h. seinen Bürgerinnen und Bürgern, gehört. «Der Bericht der Arbeitsgruppe [Mobilfunk und Strahlung] schlägt drei Optionen vor», behauptet die Swisscom in ihrem «Gemeindebrief» wahrheitswidrig und nennt die drei vom Schweiz. Verband der Telekommunikationsindustrie (ASUT) und der Kommunikationskommission (ComCom) vorgeschlagenen Varianten mit Erhöhungen oder einer «Homogenisierung» der Grenzwerte.
Unterschlagen werden die beiden von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Optionen ohne Erhöhung der Grenzwerte, insbesondere der Vorschlag, die Versorgung für den Innen- und den Aussenbereich zu trennen. 80 Prozent des mobilen Datenverkehrs finden nämlich im Inneren von Gebäuden statt, die durch Glasfaser und hausinterne Netzwerke besser zu versorgen sind als durch eine Verstärkung des Signals von aussen.
Die grosse offene Frage beim Mobilfunk sind die gesundheitlichen Auswirkungen. 240 Wissenschaftler aus 40 Ländern haben einen Appell für ein 5G-Moratorium an die EU lanciert. «Die geltenden Richtlinien der [privaten] ‹Int. Kommission für Strahlenschutz› (ICNIRP) und der WHO basieren auf der veralteten Hypothese, die gesundheitskritischen Effekte elektromagnetischer Strahlung bestehe aus einer Erwärmung des Gewebes», heisst es in dem Appell. Dagegen hätten Wissenschaftler nachgewiesen, «dass viele verschiedene Krankheiten und Störungen von Strahlungsdosen weit unterhalb der ICNIRP-Normen verursacht werden.» Begünstigt werden u.a. Tumore, Alzheimer, Unfruchtbarkeit und Schlafstörungen.
Die Swisscom dagegen erklärt den Gemeinden: «Ein realer, kausal erklärbarer Zusammenhang zwischen elektromagnetischen Feldern und Krankheitssymptomen wird von den Experten als nicht erwiesen betrachtet.» Tatsache ist, dass die 5G-Technologie zu neu für eine seriöse wissenschaftliche Prüfung ist. Es findet gewissermassen ein Feldversuch mit der gesamten Bevölkerung statt, nach dessen Abschluss eine Rückführung kaum mehr möglich sein wird, insbesondere wenn das Glasfasernetz als Basis einer Indoor-Versorgung nicht fertiggestellt wird.
Der Auftrag an die «Arbeitsgruppe Mobilfunk und Strahlung» lautete «die Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft mit leistungsfähigen Mobilfunknetzen nach dem SG-Standard vorantreiben», aber gleichzeitig «am Vorsorgeprinzip des Umweltschutzgesetzes festhalten».
Worin besteht die mobile Digitalisierung konkret? Für das enorme Wachstum des mopbilen Datenverkehrs sind vor allem die Handyvideos und die sozialen Netzwerke verantwortlich. Ihr Anteil beträgt bereits über 70 Prozent und wird gemäss Prognosen weiter ansteigen (S. 23 des Berichts der Arbeitsgruppe). Ob dies die Art der Digitalisierung ist, die wir tatsächlich wollen, werden die Politik und später die Stimmbürger entscheiden müssen. In den Eidg. Räten sind zwei Motionen, ein Postulat und 17 Interpellationen hängig. Zudem werden seit diesem Herbst für zwei Volksinitiativen Unterschriften gesammelt. Weitere sollen in Vorbereitung sein. Klarheit in diesem Durcheinander zu schaffen, wird seriösere Kommunikation erfordern als es der «Gemeindebrief» der Swisscom darstellt.
Weitere Informationen: 5G: Die heiklen Fragen bleiben
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