Im Norden Deutschlands lebt seit 47 Jahren eine christliche Basisgemeinde ohne Privatbesitz. Kann das funktionieren?

In Tüttendorf steht vieles auf dem Kopf. Und trotzdem bleiben die Menschen auf dem Boden. (Foto: zvg)

Die Reise von Berlin nach Tüttendorf gleicht einer Reise in die zunehmende Verlangsamung und Lärmreduktion. Ich fahre mit dem Zug 230 km pro Stunde aus der hektischen Hauptstadt nach Hamburg, mit 100 km pro Stunde bis Kiel und mit 50 km pro Stunde bis Gettdorf. Ich steige mit Hunderten Passagieren ein und alleine aus. Über mir ist ein grosser hellblauer Himmel und meine Augen vermessen einen weiten Horizont.

Christoph von der «Basisgemeinde» holt mich am Bahnhof mit einem der vier Autos ab, die die 50-köpfige Gemeinschaft besitzt und gemeinschaftlich nutzt. Dank einem ausgeklügelten Logbuch kommen sie alle damit aus. Wir fahren hinaus nach Tüttendorf zu den «Wulfshagenerhütten», einer Ansammlung von Häusern inmitten weiter Wiesen und Äcker. Hier hat die Basisgemeinde 1983 einen alten Gutshof gekauft, später die drei Wohnhäuser saniert und die Scheune zu einer Werkstatt für Holzspielsachen umgebaut. Die nächsten acht Tage bin ich als Kursleiterin und Gast hier.

Ich war schon mehrmals an Tagungen in Tüttendorf, hatte gelegentlich auch nach der Geschichte der Basisgemeinde gefragt, geblieben ist mir aber nur eine Szene: Vor 45 Jahren entschloss sich eine Gruppe von jungen Menschen aus Süddeutschland zusammen mit ihrem Pfarrer, alles aufzugeben, was sie mit ihrem bisherigen Leben verbunden hatte: Beruf, Wohnung, Lebensraum. Sie packten ihre Koffer und standen zusammen auf dem Bahnhof, bereit von jetzt an eine Gemeinschaft in der Nachfolge Christi zu leben. Nun bin ich täglich an einem anderen Familientisch zu Gast, frage viel und erfahre einiges.

Der alte Gutgshof von Tüttendorf. (Bild: zvg)

Gerhard Weber war der erwähnte Pfarrer, Gründer und Impulsgeber der Gemeinschaft. Er schrieb in seinem «Friedenspapier», dass sie nach dem Vorbild der ersten Christen in einer Gütergemeinschaft leben und gemeinsam den Weg der Nachfolge Christus gehen wollten. Das taten sie auch und wurden eine generationenübergreifende Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit einer Lebenskultur, die alles Bisherige auf den Kopf stellte. Die ersten zehn Jahren lebten sie bei Stuttgart. Seit 1983 nun in Tüttendorf bei Kiel im Norden Deutschlands.
«Ein Kennzeichen dieser neuen Lebenskultur des Friedens ist, dass wir miteinander teilen», schrieb Weber. «Dass wir aus unserer Kultur des Raubens und des Privatbesitzes umkehren in die Lebenskultur des Miteinanderteilens, des Schenkens und des Sich-Verschenkens.»

Wie kann eine Gemeinschaft seit 47 Jahren mit diesen Grundlagen bestehen? Dorle, seit 45 Jahren dabei, stellt sich beim Frühstück meinen vielen Fragen. Ich erfahre, dass die Mitglieder tatsächlich keine eigenen Mittel und kein Konto haben. Mit dem Eintritt in die Gemeinschaft werden alle persönlichen Guthaben dem gemeinnützigen Verein «Basisgemeinde» überschrieben. Das Geld kommt in einen grossen «Topf». Aus diesem Topf leben alle. Bis vor 18 Jahren war der Topf oft nicht so reichlich gefüllt. So sprechen die langjährigen Mitglieder von einem Wunder, dass die Gemeinschaft überlebt hat.

Die finanzielle Situation der Gemeinschaft verbesserte sich wesentlich, seit die eigene Holzspielwerkstatt Geld einbringt. Es fliesst zum Teil in einzelne Fonds – Hauswirtschaft, Kleidung, Gesundheit, Sommerreisen, spezielle Wünsche – die von Mitgliedern verwaltet werden. Wie gehen sie mit den allgemein menschlichen Problemen wie Neid und Gier um? Anders, erfahre ich, denn die unterschiedlichen Bedürfnisse werden nicht nivel- liert und kontrolliert. Die unterschiedlichen Bedürfnisse werden respektiert und gewürdigt. Es gibt nicht für alle dasselbe und im selben Masse. Warum das aufgeht und funktioniert, kann mir niemand erklären – es geht und es geht auf. Allerdings müssen die Bedürfnisse kommuniziert und transparent gemacht werden. Besondere und grössere Wünsche werden in einem angemessenen kleinen Kreis besprochen und entschieden.

Aus der Theorie der Sekten ist mir in Erinnerung, dass der Austritt aus solchen Gemeinschaften immer ein gros-ses Problem ist. Dorle erzählt mir, dass mehr Mitglieder der Basisgemeinde ausserhalb der Gemeinschaft leben als hier. Ich bohre noch weiter und frage nach diesen Austritten. Sie waren unterschiedlich konfliktreich. «Wir konnten meist ein Startgeld mitgeben», erklärt Dorle. «Aber es gab auch schwierige Diskussionen, so dass wir jetzt die Austritte formalisieren wollen. Wir haben es bis jetzt ohne Anwälte mit Gesprächen und im Konsens geschafft.»

Am Abend sitze ich mit ganz jungen Mitgliedern der Gemeinschaft beim Abendbrot. Simone und ihr Mann Daniel mit drei Kindern sind seit sechs Jahren hier. Simone ist Lehrerin für Mathematik, Musik und Sport mit einem Zweitstudium für Theologie. Gehört hier alles allen oder gibt es auch private Güter? «Meine Geige gehört mir», sagt sie. «Es gibt auch Spielsachen, die den Kindern gehören. Wir geben aber die Spielsachen innerhalb der Gemeinschaft weiter.» Im Kindergarten der Gemeinschaft sind Spielsachen, die der Gemeinschaft gehören und diese bleiben auch dort. Weil unsere Gesellschaft so überflüssig viele Kleider in Umlauf bringt, wird auch hier anders gehandelt. «Wir Frauen haben Spass, Kleidungsstücke in der ‹Kleiderkammer› zu finden und bringen unsere noch brauchbaren Teile wieder zurück», erzählt Marie-Lou. «So tauschen wir untereinander die Kleider. Wir bekommen auch viele gute Kleider aus Spenden.»

Ich muss die einladenden Familien in den Wohnhäusern suchen und staune über die Architektur. Jens, der Architekt der Gemeinschaft, hat die Grundrisse so gestaltet, dass das gemeinschaftliche Element in mittigen langen Gängen räumlich umgesetzt ist. Glastüren schliessen die privaten Wohneinheiten ab und blickdichte Holztüren sind erst innerhalb der Wohneinheit üblich. Mit Schlössern versehene Türen habe ich nirgends gesehen.
Zum Abendbrot bin ich bei der Familie Gwyther eingeladen. Der Vater Anthony, promovierter Theologe, kommt ursprünglich aus Australien und ist seit 2002 Mitglied der Basisgemeinde. Gerade kommt er von einer Mahnwache beim AKW Brokdorf nach Hause. Von ihm erfahre ich viel über die Glaubensgrundlage der Gemeinschaft.

Ursprünglich war die Basisgemeinde Teil einer Erneuerungsbewegung innerhalb der Evangelischen Kirche Württembergs. Hier bildete sich 1973 die Gründergruppe in Kornwestheim bei Stuttgart. In einem internen Dokument der Basisgemeinde werden die Gründe genannt: «Wir waren es müde, in Glaubensseminaren oder politischen Diskussionen endlos weiter zu diskutieren; wir waren es müde, der Kirche und den Verantwortlichen in ihr aufzurechnen, was sie alles versäumten; wir waren es müde, auf eine Reform von oben zu warten; wir waren es müde, dauernd mit Publikumsbeschimpfungen vor die Gemeinde zu treten und den verstörten Gottesdienst- oder kirchlichen Veranstaltungsbesuchern vorzuhalten, was sie alles noch nicht seien, was ihnen alles noch fehlen würde. Und deshalb wollten wir eine Gemeinde gründen.»

Die Kritik an der Religion und an deren Rolle in der Gesellschaft als Deckmantel für Ungerechtigkeit und Gewalt verband die Gruppe mit einer radikalen Vision des christlichen Lebens. Sie verstanden die Bergpredigt als programmatischen Text für die Gemeinschaft. Aber um Neues zu beginnen, war ein weiterer Text aus der Apostelgeschichte wegweisend: «All die vielen Menschen, die zum Glauben an Jesus gefunden hatten, waren ein Herz und eine Seele. Niemand von ihnen betrachtete etwas von seinem Besitz als persönliches Eigentum; alles, was sie besassen, gehörte ihnen gemeinsam. … Es gab unter ihnen niemand, der Not leiden musste. Denn die in der Gemeinde, die Grundstücke oder Häuser besassen, verkauften sie, wenn es an etwas fehlte, brachten den Erlös herbei und legten ihn vor die Füsse der Apostel nieder. Das wurde dann unter die Bedürftigen verteilt.» Für die Gründung und das Selbstverständnis der «Basisgemeinde» ist dieser Text zentral.

Mir kommen die Bettelmönche in den Sinn und ich frage, wie denn das Leben aussieht, wenn es so radikal umgekrempelt wird, wenn es Besitz und Lohn nicht gibt. Wovon leben die Menschen hier? «Das war von Anfang an eine zentrale Frage», bestätigt Anthony. «Wir lehnen das kapitalistische System ab, das Armut und Gewalt schafft. Nach vierzig Jahren und grossen Entbehrungen haben wir uns mit dem Bau der Holzspielgeräte eine Erwerbsbasis geschaffen, die uns nun sogar zu Arbeitgebern hat werden lassen. Die neuen Fragen lauten: Wie viel Geld soll erwirtschaftet werden? Was bedeutet es, ein verlässlicher und sozialer Arbeitgeber zu sein?»

Wie kommt Anthony zu einer so fundamentalen Kapitalismuskritik? Er vergleicht das römische Reich zu Christus’ Zeit mit dem Kapitalismus von heute und fragt im Analogieschluss, wie lebensfähig das kapitalistische Imperium heute noch sei. Babylon könnte eine Metapher für jegliche politische Macht sein, die gegen Gott und Gottes Volk steht. «Babylon ist gefallen und vielleicht ist auch unser heutiges kapitalistische System bereits gefallen?» Er erklärt, dass die Geheime Offenbarung ein Buch des Widerstands sei. Es gehöre zu den radikalsten Texten aus der Antike, weil es geschrieben wurde, um eine lebenswerte Alternative zum damals herrschenden System zu eröffnen. Der Text stelle die Welt dar, wie sie damals war und wie sie hätte sein können. Kritik und Alternative zugleich. Er sehe es heute ähnlich.

Um die Glaubenspraxis der Gemeinschaft zu erleben, nehme ich an ihren Gottesdiensten teil. Das Morgengebet im Raum der Stille wird nur von einer kleinen Gruppe besucht. Der Raum ist im Estrich würdig eingerichtet. Zum Mittagsgebet im grossen Saal des Gutshofes sind fast alle da. Es wird gesungen, aus der Bibel vorgelesen, der Gemeindemitglieder gedacht, gute Wünsche werden ausgesprochen, Organisatorisches mitgeteilt und das Gebet gesprochen. Es herrscht wohltuende Leichtigkeit. Die Ausgabe des Mittagessens schliesst sich im selben Raum locker an. Ich denke, dass hier die Menschen die christliche Botschaft leben und in sich tragen und deshalb wohl weder eine Kirche noch Institutionen für ihren Glauben brauchen.

Nach acht Tagen bin ich mit Familiengeschichten und den Erfahrungen aus meinem Bewegungskurs richtiggehend gesättigt. Tief berührt von der Offenheit der Mitglieder im Kursgeschehen und in den Gesprächen warte ich gespannt, wie sich wohl die «andere Welt» nun anfühlen wird. Martin von der Basisgemeinde bringt mich mit dem Auto etwas früher als geplant nach Kiel zum Bahnhof. Ich habe eine Sparpreisfahrkarte mit Zugsbindung, besteige einen früheren Zug und rechne mit freundlicher Nachsicht des Zugbegleiters. Die Realität erteilte mir die Lektion sofort. Ich werde deutlich darauf hingewiesen, dass so was nicht gehe. Ich muss in Hamburg den leeren Zug verlassen und warte dann drei Stunden auf den gebuchten, aber vollbesetzten Zug nach Berlin.

Das gibt mir Zeit zum Nachdenken. Ich erinnere mich an die Geschichte der Täufer-Gemeinschaften in der Schweiz, die im 16. Jahrhundert verfolgt und viele aus ihren Reihen ertränkt wurden. Ich bin dankbar, dass unsere liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung heute Experimente wie die Basisgemeinde zumindest toleriert.         

http://basisgemeinde.de

In der Werkstatt der Basisgemeinde wird hochwertiges Spielzeujg hergestellt, mit denen jedes Jahr hunderte Kindergärten ausgestattet  werden. (Bild: zvg)


Die Werkstatt brummt

Die Genossenschaft Wulfshagenerhütten eG ist die Haupteinnahmequelle der Basisgemeinde. 15 Mitglieder und 30 externe Mitarbeitende sind darin beschäftigt. Sie stellen hochwertiges Holzspielzeug her, das von der Pädagogin Elfriede Hengstenberg und der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler entwickelt wurde und das von geistigen und körperlichen Kräfte von Kindern fördern soll. Zusammen mit der grössten Krankenkasse Deutschlands werden jedes Jahr 300 Kindergärten mit Hengstenberg-Geräten ausgestattet. Die Genossenschaft arbeitet handwerklich, verwendet einheimische Hölzer – vor allem Esche und Buche – und legt Wert auf soziale Strukturen und sinnvolle, sichere Arbeitsplätze.

http://holzspielgeraete.basisgemeinde.de