Wie humanitäre Hilfe in der Ost-Ukraine als «Leugnung von Völkermord» verfolgt wird

Der Verein Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe e.V. organisiert seit 2015 Menschen Hilfslieferungen in die Ost-Ukraine. Bis zum Februar diesen Jahres hochgelobt, wird nun gegen ihn ermittelt. Der Vorwurf: «Leugnung von Völkermord» nach dem neu erweiterten §130 des deutschen Strafgesetzbuches. Ich sprach mit der Vereinsvorsitzenden Liane Kilinc gleich nach ihrer Rückkehr aus Mariupol und Donezk.

(C) Zur Verfügung gestellt von Friedensbrücke - Kriegsopferhilfe e.V.

«80% von Mariupol sind zerstört, man sieht kaum noch Fenster in den Häusern. Russland ist dabei, die Infrastruktur zu reparieren. Ich habe trotzdem keine Ahnung, wie die Menschen durch den Winter kommen werden. Dabei ist Mariupol von den befreiten Gebieten noch das sicherste. Donezk steht 24 Stunden am Tag unter Beschuss. Es braucht ein paar Tage, bis man sich daran gewöhnt, bis dahin hat man Herzrasen. Strassen und Spielplätze sind leer, die Menschen wagen sich kaum hinaus. Das wichtigste, was gebraucht wird, ist Trinkwasser.»

Erschütterung und Erschöpfung sprechen aus der Miene der Vereinsvorsitzenden Liane Kilinc, als sie mir per Video-Call von ihren Eindrücken erzählt. Ihr 2015 gegründeter Verein «Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe e.V.» ist die einzige westliche Organisation, die auch jenseits der Front Hilfslieferungen organisiert. Seit Kriegsausbruch wird ihr das als Einseitigkeit und Russlandfreundlichkeit vorgeworfen. Dabei organisiert Kilinc schon seit vielen Jahren Hilfe – nicht nur in die Ost-Ukraine, sondern vorher auch in Tschernobyl, Syrien, für verfolgte Journalisten und Holocaust-Überlebende. Der jetzige Verein entstand nach einer Russlandreise im Mai 2015. Damals waren einige politische Freunde aus Anlass des 70. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkrieges, der «Zerschlagung des deutschen Faschismus» nach Moskau gefahren. Es war auch das Jahr nach den Maidan-Protesten in der Ukraine, durch die die damalige Regierung zur Abdankung gezwungen wurde. Und das Jahr nach der Volksbefragung vom Mai 2014 in der Donbass-Region, in denen sich eine Mehrheit der Bevölkerung für Autonomie von der Ukraine aussprach.

Nach Einschätzung der OSZE war das Referendum von 2014 nicht verfassungskonform und daher illegal. EU und OSZE erkannten die Ergebnisse nicht an. Auch Putin hatte den Separatisten zunächst davon abgeraten, bestand aber dann darauf, die Ergebnisse anzuerkennen. Seitdem herrscht im Osten der Ukraine ein stetiger Krieg zwischen der Ukraine mit den so genannten Separatisten von Donezk. Diese betrachten sich als eigenständigen Staat und wurden von Russland zunächst humanitär, dann auch militärisch unterstützt. Dem Krieg im Osten der Ukraine sind bisher einige zehntausend Menschen zum Opfer gefallen.

Auf ihrer Moskau-Reise erfuhr die kleine Delegation aus Deutschland von Hilfsaktionen für die Menschen im Donbass. «Es sterben und leiden Menschen. Denen musste geholfen werden. Wir gründen einen Verein, der den Opfern von Krieg Linderung bringt, der ihnen Aufmerksamkeit schenkt, das Gefühl, nicht vergessen zu sein, Hoffnung! Hilfe vor Ort! Nicht hier oder irgendwo, sondern dort, wo der Krieg lebt und die Menschen sterben.» So steht es auf der Webseite des Vereins «Friedensbrücke / Kriegsopferhilfe e.V.», der am 18.06.2015 gegründet und kurz darauf als gemeinnützig anerkannt wurde. Falko Hartmann, Kassenwart des Vereins: «Ich bin immer dabei, wenn es um Arbeit für die Kriegsopfer im Donbass geht. Da wird nicht lang geredet, da wird gehandelt.»

Der Verein nutzte langjährige Kontakte zu alten Freunden in Russland und die Gemeinnützigkeit in Deutschland, um erste Projekte und Hilfslieferungen zu initiieren. Bald stellten sie fest, dass das gespendete Geld wesentlich besser eingesetzt war, wenn Lebensmittel, Hygieneartikel, Schulhefte und Saatgut weitgehend vor Ort und in Russland gekauft wurde. Kilinc: «Das kostet nur ein Bruchteil des Geldes, und ausserdem fördern wir damit die Kaufkraft im Land selbst.»

Donzek

Auch die dringend notwendigen Medikamente müssen in Russland gekauft werden, EU-Sanktionen verbieten ihre Einfuhr. Weiterhin organisiert und finanziert die «Friedensbrücke» Friedenscamps für Kinder, die Evakuierung von Kindern und Müttern, Sanatoriumsaufenthalte, die Versorgung von Menschen in Altenheimen, Waisenhäusern und Flüchtlingsheimen. Auch Mal- und Bastelwettbewerbe oder Sport- und Kulturveranstaltungen und Kinderfeste sind auf ihrer Webseite dokumentiert. Das Geld für diese Arbeit kommt durch Spenden in Deutschland zusammen.

Eine der Grundvoraussetzungen für den Verein ist nach eigenen Angaben von Anfang an eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden, um Korruption und Missbrauch von vornherein auszuschliessen. Durch Stadtverwaltungen und Bürgermeister erhalten sie Listen, wo Hilfe am nötigsten ist. Gerade die engen Kontakte zu Russland und der nicht anerkannten Regierung von Donezk werden ihnen nun vorgeworfen. Am 26. Oktober kam der 47. Transport mit 20 Tonnen Hilfsgütern in Donezk an. Die Transportkosten von 150.000 Rubel (etwa 2500 Euro) finanzierte der Verein. Liane Kilinc ist als Vorsitzende des Vereins mit dabei.

«Im Gespräch mit den Menschen erfuhren wir, dass die meisten Einwohner Russland als Befreier wahrnehmen. Flüchtlinge sagen uns, dass für Menschen, die Verwandte in Europa haben und dorthin ausreisen wollen, Busse über Weissrussland und Polen organisiert würden. Wer bleiben will, kann die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Von vielen Flüchtlingen haben wir grauenhafte Berichte von Kriegsverbrechen und Hinrichtungen erfahren – durch die ukrainische Seite.» Mehr will sie dazu im Moment noch nicht sagen, dazu arbeite sie noch an einem Dokumentationsfilm.

Seit Kriegsausbruch im Februar steht der Verein unter Dauerbeschuss deutscher Medien. Die Lebensmittel kämen «hauptsächlich Russen und pro-russischen Ukrainern zugute», behauptet z. B. die BZ in Berlin. «Sympathisanten» der «so genannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine» schicken Hilfsmittel in den Donbass – und «verschaffen ihnen so Legitimität», schreibt die «Welt». Und die Historikerin Dr. Franziska Davies twitterte: «Der Verein «Friedensbrücke Kriegsopferhilfe» in Wandlitz kooperiert recht offensichtlich mit dem verbrecherischen russischen Regime. Und das unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit – mit allen Vorteilen, die in Deutschland mit diesem Status verbunden sind.»

Das Finanzamt Brandenburg leitete inzwischen ein Verfahren «zum Zwecke der Überprüfung der Gemeinnützigkeit des Vereins ein.» Und das, obgleich nach Kilincs Auskunft der Verein bis jetzt vom Finanzamt beste Noten ausgestellt bekommen habe. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Vereinsvorsitzende wegen § 130: Volksverhetzung und Leugnung von Völkermord.

Der Paragraph § 130 StGB «Volksverhetzung» wurde erst am 20. Oktober vom Bundestag erweitert. Nach dem neu hinzugefügten Absatz 5 kann – vereinfacht und allgemeinverständlich formuliert – bestraft werden, wer gegen eine nationale Gruppe zu Hass oder Gewalt aufstachelt und gemäss Völkerstrafgesetzbuch strafbare Handlungen billigt, leugnet oder verharmlost und dadurch den öffentlichen Frieden stört. ´Billigung oder Leugnung von Völkermord´ kann nun mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Bundestag hatte ohne Vorankündigung darüber abgestimmt. Die breitere Öffentlichkeit erfuhr erst vier Tage später davon. «Es ging um nicht weniger als eine Handhabe gegen unliebsame Meinungen in einer Zeit, in der Deutschland Waffen in die Ukraine liefert und somit am Krieg beteiligt ist,» findet der deutsche Journalist Ulrich Heyden in Moskau.

«Sieben Jahre lang hat unsere Arbeit niemanden interessiert, seit dem 24. Februar sind wir Verbrecher», sagt Liane Kilinc. «Im Grunde wird uns vorgeworfen, dass wir Lebensmittel und Wasser an die falschen Menschen liefern. Die Gründe dafür sind rein politisch. Wir sind ungewollte Zeugen der realen Situation in der Ost-Ukraine. Wir wissen, von wo die Raketen kommen. Wir dokumentieren es. Deswegen sollen wir weg.»

Tatsächlich organisiert der Verein auch Ausstellungen und gibt Bücher heraus, in denen Augenzeugen und Überlebende zu Wort kommen, z.B. von dem ungeklärten Feuer am 2. Mai 2014 in Odessa, in dem 42 pro-russische Aktivisten verbrannten.

Im Moment schaden die Angriffe dem Verein nicht, im Gegenteil. «Niemand ist abgesprungen, alle machen weiter. Wir bekommen seit den Pressemeldungen und Anzeigen doppelt so viele Spenden, mehr Mitglieder und viel Zuspruch. Nur etwa 10% der Zuschriften sind Drohungen nach dem Motto: ´Wir finden euch, wir vernichten euch.»

Was sagt sie im Einzelnen zu den Vorwürfen? Zum Beispiel zu den engen Verbindungen nach Russland? Oder dass nur pro-russischen Opfern geholfen werde?

«Wir stammen ja alle aus der ehemaligen DDR, und viele von uns haben noch Verwandte, enge Freundschaften und Studienkollegen in Russland. Darauf können wir jetzt bauen. Und es stimmt nicht, dass wir nur ´der anderen Seite´ helfen. Wir haben von Donezk aus auch Dörfern auf der Frontlinie der ukrainischen Seite geholfen, wo man vom Westen aus gar nicht hinkam. Ohne unsere Verbindungen wäre das nicht möglich geworden.»

Doch auch damit machte der Verein sich in der Ukraine strafbar, denn das Land mit Hilfsgütern von der Ostseite aus zu betreten, gilt als illegale Einreise. «Nach den ersten Schwierigkeiten wandten wir uns an den Deutschen Bundestag mit einer Anfrage. Die Antwort war: Wir dürfen die Ost-Ukraine nur über Kiew mit Hilfsgütern beliefern, nicht über Moskau. Das ist aber völlig unmöglich, da kommt man gar nicht durch.»

Kilinc selbst ist fast rund um die Uhr beschäftigt, da die Verfahren gegen sie persönlich laufen. «Für den Verein ist die Situation gerade vorteilhaft, für mich persönlich aber eine Tragödie. Trotzdem, wir haben vor acht Jahren beschlossen, dass wir alles geben wollen, um zu helfen. Dabei bleiben wir.»

Der Verein bittet weiterhin um Spenden, auch Sachspenden sind willkommen, insbesondere für die Weihnachtsaktion. Mehr dazu auf der Webseite Friedensbrücke / Kriegsopferhilfe e.V.

https://fbko.org

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Kommentar: Apropos «Klarstellung» 

von Kai Ehlers

Am 20.10.2022 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein von der Ampelkoalition vorgelegtes Gesetz zur Erweiterung des Paragraphen 130 StGB. Der Paragraph stellte bisher die Verherrlichung des Nationalsozialismus, insbesondere die Leugnung der «Schoah» unter die Strafandrohung von 5 Jahren Haft. Neu eingefügt wurde jetzt ein Absatz, nach dem künftig darüber hinaus generell «öffentliches Billigen, Leugnen und gröbliches Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen» mit drei Jahren Haft bestraft werden können, «wenn sich die Tat dazu eignet, Hass oder Gewalt anzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören». 

514 Abgeordnete des Bundestages stimmten für dieses im Schnellverfahren ohne vorherige Anhörung und ohne längere Aussprache vorgelegte Gesetz; 92 Abgeordnete von der Partei Die Linke und der AfD stimmten dagegen. Zwei Parlamentarier enthielten sich. Einzelne Stimmen aus der CDU, sogar von der Polizeigewerkschaft meldeten Bedenken an. 

Im Übrigen ging dieser Vorgang nahezu geräuschlos über die Bühne des Bundestages und der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Die Ampelkoalition begründet die Erweiterung mit Hinweis auf Anforderungen der EU-Kommission und verharmlost sie als «Klarstellung», als ginge es um einen längst überfälligen Schutz gegen den Missbrauch der demokratischen Kultur unseres Landes. Unübersehbar ist aber in der Aktualität und Art, wie dieser Beschluss durchgeschoben wurde, dass mit dieser Erweiterung die kritischen Stimmen zum Krieg in der Ukraine kanalisiert werden sollen. Fortan steht jede kritische Stellungnahme zu den Kriegsereignissen in der Ukraine, selbst humanitäre Hilfe, die nicht aus einseitiger Parteinahme gegen Russland erfolgt, unter der Strafandrohung dieses Paragrafen. Das ist in der Tat eine Klarstellung – ob sie dem Frieden dient, ist eine andere Frage.