Je mehr wir die Natur kontrollieren, desto schärfer werden die Trennungen – zwischen Mensch und Natur und innerhalb von Gesellschaften. Diese «alte Geschichte» soll nun durch eine «neue Geschichte» des Teilens und der Gemeinschaft ersetzt werden, sagt der US-Kulturphilosoph im Gespräch mit Thomas Dönnebrink.

Zeitpunkt: Für jüngere Menschen scheint Privat­eigentum immer unwichtiger zu werden: Zugang wird wichtiger als Besitz. Wird dies unsere eigentumsbasierte Gesellschaft verändern?

Charles Eisenstein: Ja, unsere Vorstellung von uns selbst verschiebt sich. Privateigentum macht Sinn, wenn man sich als getrenntes Individuum in einem feindlichen Universum begreift, in dem alle nur auf Maximierung ihrer Eigeninteressen aus sind. Die Verfügungsgewalt und Kontrolle über Dinge bedeutet: Ich kann sie nutzen und du nicht. Wer die Welt als konkurrenzhaft und feindselig versteht, wird dies schätzen, aber wer die Welt und sich selber anders sieht, wird der Kontrolle keinen hohen Wert beimessen.

Welche Rolle spielt die SharEconomy?
Linke kritisieren, dass die SharEconomy die Eigentumsverhältnisse nicht verändert. Airbnb etwa profitiert von der Nutzungskontrolle über ein Appartement, es herrscht weiterhin Kapitalismus. Dennoch glaube ich, es ist ein Schritt in eine gemeinschaftliche Lebensweise, die auf Gemeingütern (Commons) basiert. Die SharEconomy ist dezentralisiert und trägt mit neuen Gütern und Dienstleistungen zur Wirtschaft bei. Jedes Mal, wenn du dein Apartment vermietest, erhöht sich das Bruttosozialprodukt um – sagen wir – 100 Euro, gleichzeitig aber schrumpft die Hotelindustrie um einen noch grösseren Faktor, weil Zwischenhändler und zentralisierte Infrastrukturen ausgeschaltet werden. Somit ist sie Teil des Degrowth, der Wachstumsschrumpfung. Dies ist sehr bedrohlich für das Finanzsystem. Es gewöhnt Menschen daran, Dinge zu teilen, auch Appartements. Der nächste Schritt könnte sein, dass du dich selber nicht mehr als Eigentümer betrachtest. Daher ist SharEconomy wichtiger, als die linke Kritik glaubt.

Manche sagen, Car-Sharing braucht weiterhin Autos.
Wo es viel Car-Sharing gibt, werden weniger Autos gebraucht. Das ist auch Degrowth.

In einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wünschten sich fast 90 Prozent der Befragten in Deutschland und Österreich eine andere, ökosozial orientierte Wirtschaft. Warum haben wir dann immer noch Kapitalismus?
Menschen nehmen die ganze Zeit an Systemen teil, an die sie nicht wirklich glauben. In der Sowjetunion und der DDR glaubten am Ende selbst die Eliten nicht mehr an das System. Es war wie ausgehöhlt, der Kern war weg. Jetzt ist es ähnlich. Menschen wollen die meisten Jobs nicht wirklich machen, besonders wenn ihnen bewusst wird, dass sie zur Zerstörung des Planeten beitragen. Dennoch machen sie weiter, weil sie Angst haben vor dem, was passiert, wenn sie ihren Job kündigen.

Wie kann man die «alte Erzählung» in eine neue verwandeln?
Erzählungen sind die Grundlage für alle Systeme. Die «old story» zu ändern bedeutet, das System zu verändern. Es bedeutet, anders zu leben, in Beziehung zu treten mit anderen Menschen, die nicht in diese alte Geschichte passen. Auch du bist dann nicht mehr die Person, die du zu sein glaubtest.

Beispiel?  
Eine wahre Geschichte: Ein Au-Pair-Mädchen hatte Geld von einer Familie in den USA gestohlen. Daraufhin kratzte der Junge all sein Geld zusammen und bat seine Mutter, es dem Mädchen zu schicken, weil sie Geld brauche. Jemand stiehlt Geld von dir, und du gibst noch mehr dazu – die alte Matrix, die alte Geschichte zerbricht. Wenn so etwas passiert, wird man gezwungen, alles neu zu bewerten.
Jede Erfahrung, die nicht in die Welt passt, die du kennst, ist eine Einladung in eine grössere Welt. Wir können dazu einladen durch die Art und Weise, wie wir uns verhalten – auf persönlicher oder politischer Ebene. Wenn jemand Grosszügigkeit erfährt, so ist dies eine Einladung, selber grosszügig zu werden.

Was wird sich in den nächsten fünf Jahren verändern?
Vieles wird für einige weitere Jahre beim Alten bleiben oder sogar noch intensiviert werden. Und dann wird es eine weitere schwere Krise geben – eine finanzielle oder eine nationale Katastrophe. Es ist wie ein Seil, das immer mehr gespannt wird. Wenn es locker ist, braucht man viel Gewalt, es durchzuschneiden, aber wenn es sich spannt, genügt der geringste Anlass, es reissen zu lassen. Man kann nicht wirklich vorhersagen, wann dieses Ereignis eintreten wird.

Viele erwarten, dass das Geldsystem kollabiert. Welche Rolle spielen hier Regiogelder oder komplementäre Währungen?
Komplementäre Währungen sind hilfreich als anschauliche Beispiele, dass ein anderer Weg möglich ist. Aber ich glaube nicht, dass sie einen grossen Einfluss haben.

Ein Beispiel?
Ich sehe keine, die gut funktionieren. Das Bristol Pound in England vielleicht, weil auch die Bezirksregierung sich daran beteiligt. Zeitbanken können sehr gut funktionieren, aber ihr Effekt ist ziemlich marginal. Wenn man sie wirklich nutzen möchte, müsste man aufhören, normale Währungen dafür zu benutzen. Dies passiert in Gegenden wie Griechenland, wo es kein Geld gibt, aber die Menschen weiterhin Kartoffeln anbauen. Veränderung kommt nur in grossen Krisen zustande. Oftmals, wenn man eine Krise überwunden hat, wird einem bewusst, dass sie gar nicht so so gross war. Sie erscheint furchteinflössender zu Beginn als am Ende.

Menschen sind schon durch härtere Zeiten gegangen, etwa in Kriegen.
Richtig. Wenn Bedeutungs- und Wertsysteme auseinanderfallen, wenn die Welt für Menschen keinen Sinn mehr stiftet – das sehe ich als echte Krise an. Das macht den Weg frei für neue Wertsysteme.

Der Kern der Veränderung ist ein Wertewandel?
Der Wertewandel wird hervorgerufen durch eine Verschiebung der Wahrnehmung der eigenen Innenwelt. Die Zähmung des Wilden wurde früher sehr wertgeschätzt. Menschen gingen gern in Zoos und in den Zirkus, weil hier vorgeführt wurde, dass sie die Natur beherrschen. Heute stösst das zunehmend ab. Wir wollen die Wildnis und Natur bewahren und von ihr lernen. Unsere Wahrnehmung, wer wir sind und was Natur ist, verschiebt sich. Letztere ist nämlich nicht nur eine tote Ressource, in der lediglich chemische Prozesse passieren. Wir erkennen, dass wir fundamental von der Natur abhängig sind; wir können uns dem niemals entziehen. Dieses neue Verständnis wird andere Werte schaffen.  
     
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Der US-Amerikaner Charles Eisenstein (*1967) ist Kulturphilosoph, freier Autor und internationaler Vortragsredner. Er gehört zu den wichtigsten Vordenkern von «Occupy» und lebt mit Frau und vier Söhnen in Harrisburg, Pennsylvania. Zu seinen Werken gehören Ökonomie der Verbundenheit, und Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich. http://charleseisenstein.net

Thomas Dönnebrink, ist OuiShare Connector und Freelancer für kollaborative Ökonomie, lebt in Berlin und schreibt, spricht und arbeitet zur Zeit vor allem zu den Themen  #PlatformCooperativism, #SharingCity, #Konvergenz & #Transformation. Kontakt: [email protected]TwitterLinkedIn.

Vortrag in Zürich
«Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich».
Anschliessend Podiumsgespräch mit Annette Kaiser (Villa Unspunnen) und Christian Felber (Gemeinwohlökonomie).
29. April 2016, 18.30 Uhr.
Vortragssaal des Kunsthauses Zürich, Hirschengraben 8, ­Zürich.
www.villaunspunnen.ch

Für diesen Vortrag stehen Zeitpunkt-Abonnentinnen und -Abonnenten eine begrenzte Anzahl vergünstigter Tickets zur Verfügung: Fr. 37.– anstatt Fr. 47.– im Vorverkauf bzw. Fr. 55.– an der Abendkasse, max. 2 Karten pro AbonnentIn. Senden Sie Ihre Bestellung bitte bis spätestens 22. April mit dem Vermerk «Eisenstein» an [email protected] oder rufen Sie uns an. Bezahlung an der Abendkasse.