Israel nimmt 1,5 Millionen Palästinenser in Geiselhaft
Kurz, bevor ich meine Reise nach Israel und Palästina antreten konnte, brach der Krieg aus. Und ich hatte Zeit, mich mit den Narrativen der Kriegstreiber zu befassen.
Als ich buchte, war mir etwas mulmig zumute. Vielleicht würde ich einem Terroranschlag zum Opfer fallen. Oder es kaum aushalten, wenn Israel über den grünen Klee gelobt würde. Schliesslich hatte ich die «politische Reise» bei einem deutschen Anbieter gebucht.
Bea und Jason hatten mir Mut gemacht, nach Palästina zu reisen. Im Sommer hatte ich Bea getroffen. Sie hat sieben Jahre im Libanon verbracht, war mit einem Palästinenser verheiratet gewesen. Im selben Workshop in Frankreich lernte ich den Australier Jason kennen. Er hatte als Dramatherapeut in Jenin gearbeitet. Bea meinte über die vielen westlichen Traumatherapeuten in Palästina: «Es ist ein bisschen pervers: die arbeiten daran, die Leute an die Traumata zu gewöhnen, die ihnen widerfahren.» Wie jetzt wieder.
Montag. Tag 3 nach dem Angriff der Hamas auf Israel..
Die NZZ schreibt: «Die Palästinenserpolitik der EU ist gescheitert». Die EU sei seit Jahren der grösste Geldgeber der Palästinenser, ohne viel erreicht zu haben. Nun hoffe Israel auf ein Ende der Naivität und wünscht sich vor allem Solidarität von den Europäern.
Am Montagnachmittag friert die EU die 700 Millionen Euro Hilfsgelder für die UNWRA ein. Die Uno-Organisation sorgt dafür, dass die palästinensischen Flüchtlinge zu Nahrung und Bildung kommen. Die meisten Palästinenser sind Vertriebene. Mit der Staatsgründung Israels 1948 wurden die Palästinenser Flüchtlinge im eigenen Land. Gaza und das Westjordanland würden eigentlich zu Rumpfpalästina gehören, aber selbst diese letzten Reviere hält Israel besetzt. (Um Mitternacht lese ich bei Al-Jazeera, dass sich mehrere europäische Länder erfolgreich gegen den Finanzstopp gewehrt hätten.)
Und für den Westen ist klar, wer schuld ist.
Selbst Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, der im Russland-Ukraine-Konflikt immer für eine differenzierte Wahrnehmung eintritt, schiebt alles den Palästinensern in die Schuhe. Seine tägliche Show titelt er mit: «Terrorangriff auf Israel: Hamas-Verbrecher führen Geiseln wie Trophäen vor. Wer sind die Schweizer Hamas-Freunde?»
Israel ist der König der Propaganda
Am Samstag war ich auf einer Wanderung, als nach und nach die Nachrichten vom Krieg hereinploppten. Meine Freundinnen fragten mich, ob ich wirklich nach Israel reisen wolle. Ich rief Aaron an. Er ist jüdischer Israeli und wohnt in Haifa.
«Komm nicht», sagte er mir, «wir fürchten zwar nicht um unser Leben, aber die Stimmung ist nicht gut.» Ich traute mich nicht, allzu detailliert zu fragen. Denn normalerweise schimpfte Aaron über die Palästinenser. Aber diesmal nicht. «Wir haben eine ganz schlimme Regierung», sagte er, «sie haben keine Ahnung, niemand von denen hat genug lange in der Armee gedient. Und unser Präsident ist viel zu rechts.» Am Nachmittag sagte das Reisebüro die Reise ab. Es sei das erste Mal, dass sie eine Reise nicht durchführen konnten.
Ich wunderte mich, wie es die Hamas schaffen konnte, so viele Raketen im Gazastreifen zu sammeln, ohne dass der israelische Geheimdienst etwas mitbekommen haben soll. Und wieso startete die Organisation den Grossangriff auf Israel? Niemals würde sie gegen den jüdischen Staat siegen, zumal die USA ihm sofort zu Hilfe eilen würden.
Was, wenn Israel die Hamas absichtlich hatte gewähren lassen, um hernach mit umso mehr Legitimität den Gazastreifen dem Erdboden gleichmachen zu können? Eine False Flag-Aktion? Ich wage es kaum, dies zu denken.
Die israelischen Medien begründen das Versagen ihrer Sicherheitsvorkehrungen damit, dass «der Geheimdienst der Hamas glaubte, dass er nicht mehr an Terrorakten interessiert gewesen sei». Das schreibt The Times of Israel und zitiert eine anonyme Quelle.
BBC zählt auf, wie der Hochsicherheitszaun Gaza von Israel abriegelt, nämlich mit Kameras, Bodenerschütterungssensoren und bewaffneten Patrouillen. Ausserdem hat Israel überall Informanten, in Palästina, Syrien, Libanon. BBC schliesst daraus: «Es ist absolut erstaunlich, dass niemand das hat kommen sehen. Und wenn doch, dass es niemand verhindert hat.»
Am Abend nach Kriegsbeginn haben mein Freund und ich wieder einmal eine politische Auseinandersetzung. Denn ich kann die Hamas nicht mit Todesverachtung strafen. Auch wenn ich die Überfälle und Mordtaten der Hamas zutiefst verurteile. Und froh bin, dass ich nicht dort war, als der Krieg ausbrach. «Du bist also dafür, dass man entweder die Juden oder die Palästinenser auslöscht!», schreit er mich an.
«Was!», schreie ich zurück, «wer spricht von Judenvernichtung! Das ist nur dein christliches Erbe. Ich bin für einen Staat mit gleichen Rechten für alle! Wir, wir hatten nie Pogrome. Bei uns Moslems konnten die Juden leben, zwar mussten sie mehr Steuern zahlen, aber wir haben sie nie verfolgt!»
Das ist diese tiefe Ungerechtigkeit, die ich empfinde. Wieso müssen die zumeist muslimischen Palästinenser dafür zahlen, dass die Juden in den christlichen Ländern immer wieder ethnischen Säuberungen unterworfen wurden?
Nun, kaum 24 Stunden nach dem Überraschungsangriff am Samstagmorgen, kreuzte die US-Marine mit Flugzeugträgern und Lenkwaffenkreuzer im östlichen Mittelmeer auf und kündigte die Luftwaffe an. Israel liess 300 000 Reservisten aufmarschieren.
Israels Präsident Benjamin Netanyahu schlägt mir voller Härte zurück. Am Montag hat er dem Gazastreifen alles abgedreht: Wasser, Nahrung, Strom, Benzin. Und setzt das Freiluftgefängnis unter Dauerbeschuss. Nicht einmal in den UNWRA-Schutzanlagen ist die Zivilbevölkerung sicher. In der Financial Times zeigt sich Amir Avivi, ein früherer Kommandant der israelischen Armee, ganz entschieden: «Alles andere als eine Invasion wäre ein schwerer Fehler. Wir müssen Gaza erobern, oder wenigstens den grössten Teil, und Hamas zerstören.»
Mein Hauptquelle für den Palästinakrieg ist Al-Jazeera, der Nachrichtensender aus Katar. Die Moderatoren sprechen mit Gaza, Israel, Paris, New York. Viele Reporterinnen aus Palästina sind übrigens Frauen – ohne Kopftuch.
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