Sie wollen nichts als in Frieden auf ihrem Land leben – ihr Land im Regenwald von Urabá. Gegen ihre Vertreibung kämpfen sie ausschliesslich mit friedlichen Mitteln – und das seit fast 30 Jahren: die Kleinbauern der Friedensgemeinschaft San José de Apartadó im Norden Kolumbiens.
Über 300 ihrer Mitglieder wurden im Konflikt um das ressourcenreiche und strategisch wertvolle Land umgebracht, die meisten von paramilitärischen Einheiten, den illegalen Truppen der Grossgrundbesitzer. Das war jedoch nur möglich, weil die offizielle Armee die Menschenrechtsverletzungen duldete und teilweise sogar unterstützte. Und nicht nur das: Bis heute kam keiner der Morde, Drohungen, Massaker, illegalen Hinrichtungen vor Gericht, kein Täter wurde verurteilt.
Das soll sich jetzt ändern. Am 5. Juni 2025 bat Staatspräsident Gustavo Petro die Friedensgemeinde in einer feierlichen Zeremonie in Bogotá um Vergebung – vor internationalen Zeugen, einem Teiles des Parlamentes und der Minister - und vor etwa hundert Mitglieder der Friedensgemeinde San José de Apartadó, die auf ihren T-Shirts und auf Postern die Fotos ihrer ermordeten Freunde, Nachbarn, Familienmitgliedern trugen.
Für sie war es ein lange erwarteter und schwer erkämpfter historischer Moment: Nach Jahrzehnten des Wegschauens und Verschweigens erkennt eine Regierung das Unrecht an, was ihnen angetan wurde. Das war eine ihrer Bedingungen für eine mögliche künftige Kooperatoin mit dem Staat. So verlangte es der Rat des Dorfes – und diese Aufklärung gehört zum Friedenskurs des Präsidenten.
Die Zeremonie fand auf der Plaza de Armas der Casa de Nariño vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) statt. Dieser hatte schon lange die Öffentlichkeit alarmiert und die schweren Menschenrechtsverletzungen seit 1997 gemeldet. Zum feierlichen Akt lud die Friedensgemeinschaft einige internationale Kooperationspartner ein, darunter Rajendra Singh, der «Wasser-Gandhi» aus Indien, Sabine Lichtenfels von der Friedensgemeinschaft Tamera aus Portugal.
Das erste Zusammentreffen zwischen dem Präsidenten und den Dorfvertretern endete vor einem Jahr tragisch: Das Paramilitär antworte am selben Tag mit einem Mord an zwei jungen Menschen aus der Gemeinschaft.
Gustavo Petros Schritt, Verantwortung für die Verbrechen gegen die Friedensgemeinde zu übernehmen, soll helfen, diese Verbrechen in Zukunft zu verhindern. Der Präsident nahm darüber hinaus die Gelegenheit zum Anlass für eine Analyse der jetzigen Situation in Kolumbien.
«In Kolumbien herrscht nicht der Präsident. Es herrscht die Oligarchie, und zwar mit Gewalt, Geld und gleichgeschalteter Presse – auch heute noch, nach drei Jahren intensiver Aufarbeitung durch die Regierung», sagte er.
Die bisherige Aufarbeitung käme den Nürnberger Prozessen gleich. Mit seinem Kurs für Wahrheit und Versöhnung hat sich Gustavo Petro im Land vor allem bei der Elite unbeliebt gemacht. Die Medien veröffentlichen Schmutzkampagnen gegen ihn, die leider von vielen für bare Münze genommen werden.
Auch eine Zeitpunkt-Leserin, die in Kolumbien lebt, scheint davon beeinflusst zu sein. Sie schreibt: «Präsident Petro hat die Zeit genutzt, das wenige, das in diesem Land einigermassen funktionierte, zu demontieren und es in einen noch chaotischeren Zustand zu versetzen. Und weil ein Präsident in diesen Ländern (zu) grosse Machtbefugnisse hat, setzte er überall Leute nach seinen Absichten ein und entliess diejenigen, die kompetent waren, einen Bereich zu führen.»
Kein Wunder, dass sich die eigentliche Macht im Staat gegen einen Präsidenten wehr, der – nach Jahrzehnten der Gewalt – versucht, einen Kurs der Wahrheit und Versöhnung zu fahren und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen und viele Schuldige vor Gericht zu stellen.
«Es hat sich herausgestellt», so führte Petro am 5. Juni weiter aus, «dass viele der Drahtzieher des Paramilitarismus Senatoren der Republik waren. 35 % der damaligen Senatoren landeten im Gefängnis. Die kolumbianische Gesellschaft hat noch gar nicht verstanden, was das bedeutet: 35 Prozent ihrer Gesetzgeber wurden mit dem Geld des Drogenhandels gewählt.» Mit dem Geld aus der Drogenproduktion seien die Stimmen der Armen gekauft worden. Die Gewählten seien aber diejenigen, die die Situation der Armen stetig verschlechtern – durch direkte Gewalt, durch Gesetze, die sie fördert, und durch eine Justiz, die die Gewalt nicht bestraft.
«Wie kann es sein, dass 300 Menschen in einer Gemeinschaft ermordet werden und es 30 Jahre lang keine Ermittlungen gab? Und dann sollen wir glauben, dass wir in einer Demokratie leben.»
Tatsächlich gebe es eine Gewaltenteilung in Kolumbien: «Die Generäle verkaufen sich und lassen zu, dass ihre Truppen Zivilisten ermorden. Kongressabgeordnete verkaufen sich an Mörder. Die Justiz ebenso. Und auch ein Grossteil der Medienbesitzer hat blutige Hände.»
Zur Presse sagte er: «Die Medien erklären mich für das personifizierte Böse, als ich den Völkermord in Gaza beim Namen nannte. Aber was, meine Herren von der Presse, ist böse: diejenigen, die Bomben werfen, oder diejenigen, die es anprangern?»
Petro erinnerte auch an die Verbindungen zwischen der kolumbianischen Oligarchie und israelischen Militärausbildern: «Die kolumbianische Oligarchie applaudiert den Israelis, denn sie sind alte Freunde der Paramilitärs, die damals in Urabá einmarschiert sind. Das kolumbianische Paramilitär wurde von israelischen Offizieren ausgebildet und lernte von ihnen die Kunst des Genozids. Die Folge waren 200 000 Tote in Kolumbien, alles mit der Duldung der Oligarchie dieses Landes.»
Damit spielt Petro auf die 90er Jahre an, als grosse Teile der ländlichen Bevölkerung von Urabá von Grossgrundbesitzern und ihren illegalen paramilitarischen Truppen vertrieben wurden.
Petro weiter: «Die Welt muss sich ändern, wenn wir auf diesem Planeten weiter leben wollen. Dann wird es keinen Segen mehr für die Bomben auf Gaza geben. Aber für die Menschen von San José. Diese Gemeinschaft kann sogar die Menschen in Gaza lehren, dass das, was nach den Bomben kommt, nicht Rache ist. Sondern dass das, was kommt, ist der Aufbau des Friedens.»
Die Vertreter der Friedensgemeinde erfuhren an diesem Tag eine Stärkung für ihren Kurs der Vergebung und Gewaltfreiheit. Und doch wissen sie nicht, wie die Zeremonie ihr weiteres Schicksal beeinflusst. Wird sie zu einem neuen Gewaltausbruch führen, um zu zeigen, dass nicht der Präsident die Macht im Staat hat, sondern immer noch die Oligarchie? Oder sind doch erste Anzeichen des Friedenskurses zu spüren?
In weniger als einem Jahr finden wieder Wahlen statt. Petro bleibt nicht viel Zeit, um mit den alten Seilschaften aufzuräumen und wirklich ein neues Kolumbien zu etablieren. Und doch tut es gut, einen Präsidenten so wahre Worte sprechen zu hören.